Der resiliente Mensch - Wie wir Krisen erleben und bewältigen • Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie

Der resiliente Mensch - Wie wir Krisen erleben und bewältigen • Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie

von: Raffael Kalisch

Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783827079312

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1513 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Der resiliente Mensch - Wie wir Krisen erleben und bewältigen • Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie



Vorwort


Wie gelingt es manchen Menschen, trotz Stress nicht krank zu werden?

Ich habe mich wahnsinnig auf mein Studium gefreut. Schon lange bevor ich mich überhaupt für ein Studienfach und einen Studienort entscheiden musste, fuhr ich in verschiedene deutsche Unistädte, besuchte Vorlesungen, schaute mich um, sprach mit Studenten. Studium, das Wort klang wie eine Verheißung. Ich würde Dinge lernen, die ganz anders wären und weit über das hinausgingen, was die Schule mir bieten konnte. Mehr noch, ich würde selbst forschen und zu neuem Wissen vorstoßen. Der Anblick eines Hörsaals, eines Institutsgebäudes, einer Bibliothek faszinierte mich, ja er elektrisierte mich geradezu. Und natürlich träumte ich vom Studentenleben, das auch nicht zu kurz kommen sollte und das sicher viel aufregender sein würde als das Nachtleben meiner Heimatstadt Heilbronn.

Sie mögen in diesen Träumen das Psychogramm des angehenden Wissenschaftlers erkennen. Da ist vermutlich etwas dran; denn bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen und trotz der Zweifel, die sich mehr als einmal zu Wort meldeten, konnte ich mir doch nie vorstellen, jemals eine andere als die akademische Laufbahn einzuschlagen. Den einmal gewählten Weg, der 1993 mit einem Studium der Humanbiologie an der Universität Marburg begann, habe ich bis heute nicht verlassen. Eine Portion Glück und die nötige psychische Robustheit waren dabei unentbehrliche Begleiter.

Einem meiner besten Schulfreunde erging es anders. Uli war immer ein großer Tierfreund gewesen. Er liebte es, sich mit Tieren zu umgeben und sie zu beobachten. Bereits während der Schulzeit verblüffte er uns mit seinem enormen Wissen, im Biologie-Leistungskurs gehörte er zu den Besten. Auch Ulis Weg schien vorgezeichnet. Doch schon nach den ersten Monaten seines Studiums in Heidelberg war für alle, die ihn besser kannten, unübersehbar, dass sich sein Leben zunehmend verdunkelte. Vor allem die Nebenfächer Mathematik und Physik setzten ihm zu. Die Mathematik-Prüfung im zweiten Semester bestand er erst im dritten Anlauf. Am Ende der folgenden Semesterferien, die er bei seiner Freundin in Südfrankreich verbrachte, konnte er sich kaum zur Rückkehr nach Heidelberg aufraffen; während des für Biologiestudenten obligatorischen Physikpraktikums im dritten Semester fuhr er jeden zweiten Tag zu seinen Eltern nach Heilbronn zurück. Doch die Probleme folgten ihm nach, neue Kräfte konnte er auch zu Hause nicht sammeln. Auf die schließlich anstehende Physik-Prüfung, die ihn in Panik versetzte, bereitete er sich gar nicht mehr richtig vor, sondern vergrub sich lieber in seine biologischen Fachbücher. Als Uli im dritten Semester das Studium abbrach, war er in eine schwere Depression abgerutscht. Bis heute benötigt er die Hilfe von Psychopharmaka, um sein Leben zu bewältigen.

Ich konnte es zunächst kaum fassen, als mir Uli erzählte, dass er eine klinische Depression habe. Es war das erste Mal, dass ich in meinem unmittelbaren Umfeld mit dem Phänomen einer stressbedingten Erkrankung konfrontiert wurde, einer psychischen Krankheit also, bei deren Entstehung Stress eine wichtige Rolle spielt. Ich wusste zwar von den Schwierigkeiten, mit denen Uli in seinem Studium zu kämpfen hatte. Auch mein eigenes Studium und das Studentenleben hatten sich als nicht ganz so strahlend entpuppt wie erträumt – zumindest bis ich am Anfang des dritten Semesters meine spätere Frau kennenlernte. Andererseits war ich aber auch nie davon ausgegangen, alles würde mir immer nur leichtfallen. Manchmal muss man sich eben durchbeißen, davon war ich fest überzeugt. Uli war das offensichtlich nicht gelungen. Ich hatte seine Depression nicht kommen sehen. Unsere Leben bewegten sich in zwei sehr verschiedene Richtungen.

Als im Oktober 2016 in den Medien darüber berichtet wurde, dass sich die Studenten in Deutschland in ihrer Mehrheit massiv gestresst fühlen, musste ich sofort an Uli denken. Hintergrund der Nachricht waren die von der AOK veröffentlichten Ergebnisse einer großen Studie mit insgesamt 18000 Teilnehmern. Die Studie wartete mit alarmierenden Zahlen auf. Nicht nur leidet die heutige Studentengeneration stark unter Zeit- und Leistungsdruck sowie unter der Angst vor Überforderung. Die Studienleiter wiesen überdies darauf hin, dass sich Studenten mehr gestresst fühlten als Arbeitnehmer. Während 53 Prozent aller Studenten ihr Stresslevel als hoch bezeichneten, sind es bei den Arbeitnehmern, kaum weniger besorgniserregend, »nur« 50 Prozent.

Der Grund, warum gerade eine Krankenkasse eine derartige Studie in Auftrag gibt, lässt sich aus anderen beunruhigenden Zahlen ableiten: der deutlichen Zunahme von Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung aufgrund psychischer Störungen. Die Zahlen fügen sich in das Bild, das von anderen großen, weltweiten Studien gezeichnet wird. Diese untersuchen die Verbreitung stressbedingter Erkrankungen (oder kurz: Stresserkrankungen), die damit einhergehenden Beeinträchtigungen für das Leben der Patienten und die gesellschaftlichen Auswirkungen solcher Erkrankungen. Zu den Stresserkrankungen werden neben der Depression vor allem Angststörungen und die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gezählt, aber auch Sucht- oder Schmerzerkrankungen können mit Stress zusammenhängen. Auch der Burnout gehört dazu, der in Wirklichkeit eine Depression ist, was in einer arbeits- und leistungsorientierten Gesellschaft wie der unseren aber nicht so gut klingt.

Die Ergebnisse der großen Studien zeichnen in der Tat ein düsteres Bild. So leiden jedes Jahr etwa eine halbe Milliarde Menschen auf der Welt an einer Stresserkrankung. Ebenfalls jährlich summieren sich die durch Stresserkrankungen hervorgerufenen »years lived with disability« auf die gewaltige Zahl von hundert Millionen. Der englische, aus der Zunft der Epidemiologen (der Experten für Krankheitsstatistiken) stammende Begriff bezeichnet die Jahre, die Menschen aufgrund ihrer Erkrankungen mit starken Beeinträchtigungen, etwa einer Arbeitsunfähigkeit, leben müssen. 2013 – das letzte Jahr, für das aktuell gut ausgewertete Daten vorliegen – war die Depression die zweitwichtigste Ursache für Gesundheitsbeeinträchtigungen weltweit, Angsterkrankungen rangierten an neunter Stelle. Eine länderübergreifende Studie aus dem Jahr 2012 bezifferte die volkswirtschaftlichen Folgekosten der Stresserkrankungen auf jährlich zweihundert Milliarden Euro, und das allein in Europa. Nüchterne Zahlen, hinter denen sich Einzelschicksale wie das von Uli verbergen.

Meine Arbeit als Forscher an der Universität Mainz befasst sich mit der Frage, wie Menschen trotz Herausforderungen, Krisen, Konflikten und Beanspruchungen, trotz körperlicher Krankheiten, Schicksalsschlägen, Traumatisierungen und anderen Formen von Stress psychisch gesund bleiben können. Wie es also gelingen kann, trotz solcher ungünstigen Voraussetzungen keine Depression, Angststörung oder Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Dieses Phänomen, das Nicht-Krankwerden trotz Stress, ist mittlerweile unter dem Schlagwort der Resilienz populär geworden. Man begegnet ihm nicht nur in den Artikeln von Zeitungen und Magazinen, sondern auch, wenn man vor den Regalen der Bahnhofsbuchhandlungen steht oder sich Talkshows im Fernsehen ansieht.

Doch bei aller Popularität: Die Resilienz-Forschung ist zunächst einmal eine ganz spezifische und für einen Stressforscher keineswegs selbstverständliche Art und Weise, Stresserkrankungen wissenschaftlich zu betrachten und zu erforschen. Ich selbst habe begonnen, mich für das Thema der Resilienz zu interessieren, als ich mir die Frage stellte: Warum ist es uns trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung – in den letzten zwanzig Jahren nicht zuletzt unter starker Beteiligung meiner eigenen Disziplin, der Hirnforschung – und trotz wahrnehmbarer Verbesserungen in der Behandlung von Stresserkrankungen nicht gelungen, die Häufigkeit dieser Erkrankungen zu senken? Meiner Meinung nach kann das nicht nur einfach daran liegen, dass die Quellen von Stress im Lauf der Jahre stetig zugenommen haben und der neu hinzugekommene Stress die Erfolge seiner Erforschung sozusagen gleich wieder aufgefressen hat. Auch die Generation meine Eltern führte schließlich kein stressfreies Leben, und zu ihrer Zeit gab es noch keine Kitas und kein Internet und keine Smartphones, die die Organisation des Alltags erleichterten. Vom Stress, dem die Generation meiner Großeltern ausgesetzt war, ganz zu schweigen. Und auch wenn ich selbst zurückblicke, erinnere ich mich an sehr viel Angst in meiner Jugend. Angst vor einer atomaren Eskalation des Kalten Krieges, Angst vor dem Waldsterben, Angst vor einem weiteren Super-GAU in einem Kernkraftwerk. Und nicht zuletzt – das ist vielen Studenten heute gar nicht mehr bewusst – hing das Damokles-Schwert der Arbeitslosigkeit damals noch in weit größerem Maß über Akademikern als heute.

Es ist sicher nicht falsch, zu sagen, dass wir in unserem Kampf gegen stressbedingte Erkrankungen in einer Sackgasse stecken oder doch zumindest nicht vorwärtskommen. In einer solchen Situation tut man als Wissenschaftler gut daran, einmal innezuhalten und sich zu überlegen, ob man irgendetwas besser machen kann. Und man sollte auch nicht die schmerzhafte Frage scheuen, ob man am Ende auf dem falschen Pfad ist: Muss man vielleicht noch einmal ganz neu nachdenken?

Die konservative Antwort darauf könnte lauten: Wir sollten einfach noch mehr und noch entschlossener darüber forschen, wie Stress Menschen krank macht, warum manche Menschen dafür besonders anfällig sind und wie man Stresserkrankungen therapieren kann. Das wäre der traditionelle Ansatz der Stressforschung: nachvollziehen, wie es zur Erkrankung kommt, um dann auf der Grundlage eines besseren Verständnisses dieser Krankheitsmechanismen Behandlungesmöglichkeiten zu...

Kategorien

Service

Info/Kontakt