Feind des Volkes - Max Hellers letzter Fall

Feind des Volkes - Max Hellers letzter Fall

von: Frank Goldammer

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2021

ISBN: 9783423439268

Sprache: Deutsch

416 Seiten, Download: 986 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Feind des Volkes - Max Hellers letzter Fall



1959


Dresden, 31. August 1959, Nachmittag


»Max, schau mal!«, begrüßte Karin ihn, als er die Küche betrat. Sie stand gerade am Herd und deutete über die Schulter zum Esstisch.

Heller stellte seine Tasche ab und gab seiner Frau einen Kuss.

»Wo ist Anni?«, fragte er und beugte sich dann über mehrere Briefe, die aufgefaltet auf dem Tisch lagen.

»Sie ist Schulhefte kaufen, mit Vera und Martina.«

Martina war das Mädchen der Seiberts, der neuen Nachbarn, die ins Haus vom alten Meyer gezogen waren, nachdem dieser vor über einem Jahr gestorben war. Einer seiner Angehörigen hatte ihn in seinem Sessel sitzend vorgefunden, mit den Pantoffeln an, einem Glas Bier neben sich auf dem Tisch und einem leise dudelnden Radio. Es hatte ausgesehen, als schliefe er. Heller, den man aufgeregt dazugeholt hatte, hatte nur noch den Tod feststellen können. Kein schlechter Tod, hatte er sich damals gedacht, mit weit über siebzig mit einem leisen Lächeln im Gesicht einfach so von der Welt gehen zu können.

»Fällt dir etwas auf?«, fragte Karin und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Ja, Erwin hat geschrieben.« Heller hatte sich schon zur Hälfte in den Brief eingelesen. Es wurde Zeit, dachte er bei sich. Der Abstand zwischen diesem und dem letzten Brief war ungewöhnlich groß gewesen.

Karin sagte nichts, aber schaute ihn ungeduldig an. Er blickte kurz fragend auf, aber nahm sich Zeit, weiterzulesen und den Brief dann zu den anderen dazuzulegen. Erwin hatte nichts Ungewöhnliches geschrieben. Es ging allen gut und er zog offenbar in Erwägung, bei seiner Kanzlei zu kündigen und sich als Anwalt selbstständig zu machen. Heller musste insgeheim den Kopf schütteln. Mit welchen Problemen sich sein Sohn da auseinanderzusetzen hatte, das war so weit weg von dem, was sie hier tagtäglich beschäftigte. Weit weg waren auch Erwin und sein Leben in Westdeutschland. Obwohl sie sich regelmäßig schrieben und Fotos schickten. Seine Frau Monika war wieder schwanger und stand kurz vor der Entbindung, hatte Heller gelesen. Erwin hatte mit seiner Familie in Köln wirklichen Ersatz für seine Familie in Dresden gefunden. Auf den Fotos stand er immer lachend in deren Mitte.

Heller nahm jetzt den nächsten Brief, den ihm Karin hinhielt. Er betrachtete das Schreiben sorgfältig, suchte in der Schrift seines Sohnes nach einer Veränderung, in den Worten irgendeine Botschaft, die er vielleicht nicht verstanden hatte. Schließlich gab er auf.

»Was soll denn sein, Karin? Was ist mit den Briefen?« Er sah sie verwundert an.

»Aber, Max, du bist doch hier der Kriminalpolizist«, spöttelte sie und legte ihm liebevoll die Hand in den Nacken. Dennoch war Heller der resignierte Zug um ihren Mund nicht entgangen.

Erneut widmete Heller seine Aufmerksamkeit dem Brief. Wenn er wüsste, wonach er suchen sollte, wäre es einfacher. Doch Karin hatte ihn bei seiner Ehre gepackt. Es musste ja einen Grund geben, warum sie ihm die letzten sieben Briefe von Erwin hingelegt hatte, chronologisch nach ihrem Eingang sortiert. Einen nach dem anderen betrachtete er aufmerksam, drehte und wendete sie. Und dann bemerkte er es plötzlich.

Er blickte hoch. »Weißt du es schon länger? Oder habt ihr euch das gemeinsam ausgedacht?«, fragte er Karin.

»Dass er die Briefe auf diese Art durchnummeriert? Nein, das ist mir gerade erst aufgefallen. Er macht es ja recht geschickt.«

Heller nickte. Er hatte bisher nie besonders auf das Datum geachtet, das Erwin immer oben rechts auf der ersten Seite vermerkte. Man wusste nie, wie lange ein Brief über die Grenze benötigte. Manchmal ging es schnell, manchmal brauchte er zwei Wochen oder mehr. Ob da nun der sechste, siebte oder dreiundzwanzigste Mai, Juni oder Juli stand, war kaum relevant. Erwin hatte irgendwann mit dem ersten März begonnen, datierte die Briefe einfach aufsteigend, mit dem zweiten Mai, dem dritten Juni, dem vierten August und so fort. Inzwischen waren sie beim zwanzigsten angelangt. Keine große Sache, doch unauffällig genug, dass es bisher niemandem aufgefallen war.

»Da fehlt Nummer neunzehn«, stellte Heller fest.

Karin nickte. »Tja, das ist das Problem, Nummer zwölf fehlt und die Nummern acht und neun.«

»Wie weit kannst du das zurückverfolgen?«

»Bis zu dem Brief, als er mit der Eins begann. Die Briefe zuvor hat er wohl richtig datiert. Anscheinend ist ihm aufgefallen, dass gelegentlich ein Brief nicht ankam.«

»Oder wir irren uns einfach.« Heller legte die Briefe vorsichtig ab, als könnten sie zerknittern.

»Ich würde ja telegrafieren oder anrufen. Wenn ich könnte.«

Heller überhörte den leisen Vorwurf. Er wusste, er galt nicht ihm, sondern dem Staat, in dem sie lebten.

»Könnten sie nicht einfach verloren gegangen sein?«, schlug er vor.

»Das könnte sein. Herr Eigner hat ja erzählt, dass selbst seine Briefe aus Moskau nicht immer daheim ankamen. Weißt du noch, Max, letztes Jahr zu Ostern deutete Erwin an, dass er nun doch überlegte, einmal mit der Familie zu Besuch in die DDR zu kommen. Kann es nicht sein, dass genau diese Briefe nicht ankamen, in denen er das mit uns besprechen wollte?« Karin wurde ganz eifrig, sie zog einen der Briefe heraus, überflog ihn und deutete schließlich auf eine bestimmte Passage. »Und dann schreibt er so etwas. Das bekommt doch gleich einen ganz anderen Sinn.«

Heller las und erinnerte sich wieder daran, die Sätze damals gelesen zu haben, ohne sie zu verstehen.

Haben überlegt, kurzfristig in den Osten der Stadt zu ziehen, der Plan scheiterte jedoch an unüberwindlichen Hindernissen, las Heller. Er hatte sich noch überlegt, wieso Erwin eine Wohnung in so guter Lage hatte aufgeben wollen, nahe am Rhein, in Sichtweite des Doms.

»Ich kann dir noch viele solcher Textstellen zeigen. Max, du weißt, wie ich denke. Ich glaube nicht an solche Zufälle. Vier Briefe fehlen.«

Heller schob die Briefe von sich weg und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Nachdem es wochenlang heiß gewesen war, hatte sich das Wetter merklich verändert. Es war kühler geworden, bewölkt, mit gelegentlichen Regenschauern, eine wahre Erleichterung. Im Präsidium gab es gerade nicht viel zu tun. Anni ging es gut in der Schule, sehr gut sogar. Sie war lieb und artig, mehr, als man es von einem Mädchen heutzutage erwarten konnte. Sie war jetzt in einem Alter, in dem die Jugendlichen gelegentlich aufmüpfig wurden. Anni saß nur zu oft vor dem Fernseher und stellte manchmal das Radio in ihrem Zimmer zu laut. Eigentlich war sie kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau, so selbstständig in Schule und Freizeit, dass man sich kaum noch um etwas kümmern musste. Es war angenehm, mal an nichts denken zu müssen.

Jetzt hatte ihn Karins Verdacht mit Erwins Briefen unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Man konnte viel interpretieren, wenn man erst einmal an etwas glaubte. Dabei musste man vorsichtig sein, nicht selbst so paranoid zu werden wie die Regierung dieses Staates.

»Das müsste bedeuten, jemand entwendet gezielt diese Briefe«, überlegte Heller laut und sprach damit aus, was Karin sowieso dachte. Sie standen unter genauer Beobachtung. Aber auch das war keine Neuigkeit, es war ihm mehr als einmal deutlich gemacht worden. Doch so logisch das auch alles erschien, Heller wollte für sich trotzdem eine andere Erklärung offenlassen. Dass die Briefe zufällig verschwunden waren. Dass Max Heller und seine Familie viel zu unwichtig waren, als dass man sie dauernd beobachten musste.

Sie mussten damit leben, mussten sich arrangieren. Das hatten sie schon, zur Genüge. Sie hatten sich damit arrangiert, dass der eine Sohn im Westen lebte, kaum erreichbar, und der andere Sohn hier in Dresden noch viel unerreichbarer war, gefangen in seiner Ideologie, die kaum Platz ließ für individuelles Denken und Handeln. Sie hatten sich damit arrangiert, dass sie bald noch einen Enkel haben würden, von dem sie bestenfalls Fotos sehen würden, wie schon vom kleinen Max, der inzwischen acht Jahre alt war. Sie hatten sich damit arrangiert, dass sie hier eine Enkelin hatten, die sie nur noch selten sehen durften.

Kurz vor Weihnachten letzten Jahres hatte Heller sich ein Tonbandgerät zugelegt, eine Anschaffung, die so zufällig und typisch für dieses Land war. Er war auf der Suche nach einem Schallplattenspieler gewesen, doch Schallplattenspieler gab es in den Geschäften gerade nicht, dafür aber das Tonbandgerät RFT 19-2 aus dem VEB Funkwerk in Leipzig. Das Gerät befand sich in einem Koffer mit abnehmbarem Deckel, mit blauem Kunstleder bezogen und Metallschutz an allen Ecken. So hatte Heller begonnen, ab und zu etwas aufzunehmen, bei privaten Feiern oder wenn Anni ein Lied oder Gedicht für die Schule lernte. Er hatte auch das letzte Weihnachtsfest aufgenommen, an dem Klaus mit Erika und Silvia bei ihnen gewesen war. Ein buntes Gemisch aus Gesprächen, Gesang der Frauen und Mädchen und dem Gepolter des bestellten Weihnachtsmannes, eines Kollegen von Klaus. Heller musste unwillkürlich lächeln, als er an diesen Abend dachte. Doch dann schlich sich sofort ein anderer Gedanke ein und die Sorge, dass das vielleicht das letzte gemeinsame Weihnachten gewesen war. Seitdem hatte Klaus den Kontakt zu ihnen auf ein Minimum beschränkt.

Karin klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch und riss ihn aus den trüben Gedanken. »Was soll’s, lass uns Kaffee trinken.«

»Waren sie heute eigentlich da?«, fragte Heller jetzt. Aber Karin winkte nur ab. Sie wusste, worauf Heller anspielte. Seit März dauerten die Arbeiten an der Garage an, ein halbes Jahr war vergangen. Hatte es zuerst ausgesehen, als ginge es zügig voran, stagnierten die Arbeiten, kaum dass der...

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