Loney

Loney

von: Andrew Michael Hurley

Ullstein, 2016

ISBN: 9783843714396

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 874 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Loney



2


Ich weiß nicht, ob es noch einen anderen Namen hatte, aber die Einheimischen nannten es The Loney – dieses seltsame Nirgendwo zwischen den Flüssen Wyre und Lune, wohin Hanny und ich jedes Jahr an Ostern gemeinsam mit Mummer, Farther, Mr und Mrs Belderboss und unserem Gemeindepfarrer Father Wilfred fuhren. Es war unsere Woche der Buße und des Gebets, in der wir die Beichte ablegten, den Schrein der heiligen Anna aufsuchten und nach Gott Ausschau hielten im aufkeimenden Frühling, der dann jedoch kaum ein echter Frühling war, weder lebhaft noch überschwenglich. Es war eher die feuchte Nachgeburt des Winters.

Doch so öde und nichtssagend The Loney auch wirken mochte, es war ein gefährlicher Ort. Ein rauher, nutzloser englischer Küstenstreifen. Die tote Mündung einer Bucht, die sich zweimal täglich füllte und leerte und dabei Coldbarrow – eine einsame Landzunge, die eine Meile ins Meer ragte – in eine Insel verwandelte. Die Flut konnte schneller hereinströmen, als ein Pferd zu rennen vermochte, und Jahr für Jahr ertranken ein paar Menschen. Glücklose Fischer wurden vom Kurs abgebracht und liefen auf Grund. Glücksuchende Muschelsammler, die nicht wussten, worauf sie sich einließen, fuhren bei Ebbe mit ihren Wagen auf den Sand und wurden Wochen später mit grünen Gesichtern und Haut wie aus Mull wieder angeschwemmt.

Manchmal schafften es diese Tragödien in die Nachrichten, doch die Grausamkeit von The Loney schien so unvermeidlich, dass diese Seelen sich meist unbeachtet zu zahlreichen anderen gesellten, die im Laufe der Jahrhunderte bei dem Versuch, den Ort zu zähmen, ums Leben gekommen waren. Überall fanden sich noch Spuren der alten Industrie: Wellenbrecher waren durch Stürme zu Kies zermahlen worden, Hafenmolen im Schlamm versunken, und von dem alten Dammweg nach Coldbarrow war nur eine Reihe verrotteter schwarzer Pfosten übrig, die nach und nach im Schlick verschwanden. Dann gab es da noch andere, mysteriösere Bauwerke – Überreste von schlampig errichteten Bretterbuden, in denen einst Makrelen für die Märkte im Landesinneren ausgenommen worden waren, rostende Baken, den Stumpf eines hölzernen Leuchtturms auf der Landspitze, der einst Seeleute und Schäfer durch die launenhaften Sandverschiebungen geführt hatte.

Aber The Loney wirklich zu kennen war unmöglich. Es verwandelte sich mit jedem Einströmen und Zurückweichen des Wassers, und die Nipptiden brachten die Gerippe derjenigen zum Vorschein, die glaubten, sie hätten den Ort gut genug verstanden, um seinen heimtückischen Strömungen zu entkommen. Dabei handelte es sich um Tiere, manchmal um Menschen, einmal um die sterblichen Überreste von beiden – eines Viehtreibers und seiner Schafe, die auf dem alten Übergang von Cumbria abgeschnitten worden und ertrunken waren. Seit ihrem Tod vor über einem Jahrhundert hatte The Loney ihre Knochen immer weiter landeinwärts geschoben, als ob es damit etwas beweisen wollte.

Niemand, der auch nur das Geringste über diesen Ort wusste, näherte sich je dem Wasser. Das heißt, niemand außer uns und Billy Tapper.

Billy war ein ortsbekannter Trinker. Sein tiefer Absturz gehörte wie das Wetter fest zur Mythologie der Gegend, und er war ein gefundenes Fressen für Menschen wie Mummer und Father Wilfred, die ihn als Kürzel dafür verwendeten, was der Alkohol mit einem anstellen konnte. Billy Tapper war keine Person, er war eine Strafe.

Der Legende zufolge war er Musiklehrer an einem Jungengymnasium gewesen oder Direktor einer Mädchenschule in Schottland oder unten im Süden oder in Hull, irgendwo, überall. Seine Geschichte variierte je nach Erzähler, doch es war allgemein anerkannt, dass der Alkohol ihm den Verstand geraubt hatte, und es gab unzählige Anekdoten über seine Verschrobenheiten. Er lebte in einer Höhle. Er hatte in Whitehaven jemanden mit einem Hammer erschlagen. Er hatte irgendwo eine Tochter. Er glaubte, dass eine bestimmte Kombination aufgelesener Steine und Muscheln ihn unsichtbar machte, torkelte oft mit vor Kieseln klimpernden Taschen ins Bell and Anchor in Little Hagby und versuchte, aus den Gläsern anderer Leute zu trinken, weil er dachte, sie könnten ihn nicht sehen. Daher die verbeulte Nase.

Ich wusste nicht, wie viel davon der Wahrheit entsprach, aber das war auch nicht weiter wichtig. Wenn man Billy Tapper einmal gesehen hatte, schien alles möglich, was die Leute über ihn sagten.

Wir begegneten ihm zum ersten Mal an der Bushaltestelle aus mit Kieselrauhputz versehenem Beton an der einzigen Straße, die entlang der Küste von Morecambe nach Knott End führte. Es muss 1973 gewesen sein, als ich zwölf und Hanny sechzehn Jahre alt war. Farther war nicht bei uns. Er war früh mit Father Wilfred und Mr und Mrs Belderboss aufgebrochen, um sich die Glasmalerei in einer zwanzig Meilen entfernten Dorfkirche anzusehen, wo es anscheinend ein herrliches neogotisches Fenster gab, auf dem Jesus die Wellen besänftigt. Also hatte Mummer beschlossen, Hanny und mich nach Lancaster mitzunehmen, um Lebensmittel einzukaufen und eine Ausstellung antiquarischer Psalter in der Bibliothek zu besuchen – denn Mummer ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, uns über die Geschichte unseres Glaubens zu unterrichten. Dem Pappschild zufolge, das Billy sich um den Hals gehängt hatte – eines von mehreren Dutzend, mit denen er den Busfahrern zu erkennen gab, wohin er wollte –, war er in dieselbe Richtung unterwegs.

Die anderen Orte, an denen er gewesen war oder die er womöglich würde aufsuchen müssen, offenbarten sich, als er sich im Schlaf regte. Kendal. Preston. Manchester. Hull. In letzterem lebte seine Schwester, wie sich von dem leuchtend roten Pappquadrat ablesen ließ, das an einer separaten Schnürsenkelkette hing und Informationen enthielt, die sich in einem Notfall als wertvoll erweisen mochten, darunter seinen Namen, die Telefonnummer seiner Schwester und den in Blockbuchstaben vermerkten Hinweis, dass er allergisch gegen Penizillin war.

Diese spezielle Tatsache faszinierte mich als Kind, und ich fragte mich, was wohl geschehen würde, wenn man ihm trotzdem Penizillin gäbe, ob ihm das überhaupt noch größeren Schaden zufügen könnte, als er sich selbst bereits zugefügt hatte. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der so lieblos mit seinem eigenen Körper umging. Seine Finger und Handflächen starrten vor Dreck. Jede Linie und Falte war braun. Zu beiden Seiten seiner gebrochenen Nase lagen seine Augen tief in den Schädel gedrückt. Sein Haar wucherte ihm über die Ohren und den Hals hinab, der von Dutzenden Tätowierungen die Farbe des Meeres angenommen hatte. Seine Weigerung, sich zu waschen, hatte in meinen Augen etwas beinahe Heroisches, wenn man bedachte, wie regelmäßig Hanny und ich von Mummer geschrubbt und frottiert wurden.

Er war auf der Bank in sich zusammengesackt, eine umgekippte leere Flasche von irgendetwas Üblem neben sich auf dem Boden und eine kleine, verschimmelt aussehende Kartoffel im Schoß, die ich auf seltsame Weise als tröstlich empfand. Es erschien mir angemessen, dass er nur eine rohe Kartoffel besaß. Diese entsprach meiner Vorstellung von dem, was Penner zu sich nahmen, wovon sie über Wochen kleine Stückchen abknabberten, während sie auf der Suche nach der nächsten die Straßen und Gassen durchstreiften. Per Anhalter fuhren. Klauten, was sie in die Finger bekamen. Züge als blinder Passagier bestiegen. Wie gesagt, die Landstreicherei hatte für mich in diesem Alter noch etwas Romantisches.

Er sprach im Schlaf mit sich selbst, schloss die Hände um seine Taschen – die klangen, als wären sie voller Steine, genau wie alle sagten – und beschwerte sich bitterlich über jemanden namens O’Leary, der ihm Geld schuldete, das er ihm nie zurückgegeben hatte, obwohl er ein Pferd besaß. Als er aufwachte und unsere Anwesenheit bemerkte, tat er sein Bestes, um höflich und nüchtern zu wirken, zeigte ein aus drei bis vier schiefen schwarzen Zähnen bestehendes Grinsen und zog seine Tellermütze vor Mummer, die kurz lächelte, ihn jedoch sofort durchschaute, was sie bei Fremden stets vermochte, und in halb angewidertem, halb ängstlichem Schweigen dasaß und den Bus durch reine Willenskraft herbeizurufen versuchte, indem sie die leere Straße hinaufstarrte.

Wie die meisten Betrunkenen verzichtete Billy auf Höflichkeitsfloskeln und klatschte mir sein blutendes, gebrochenes Herz gleich wie einen Brocken rohes Fleisch in die Hand.

»Fallt nicht auf das Teufelszeug rein, Jungs. Ich hab alles verloren deshalb«, sagte er, während er die Flasche hob und die letzten Tropfen hinunterkippte. »Seht ihr die Narbe?«

Er hielt seine Hand hoch und schüttelte den Ärmel hinunter. Eine rote Naht führte vom Handgelenk bis zum Ellbogen, wand sich durch tätowierte Dolche und Mädchen mit Melonenbrüsten.

»Wisst ihr, wie ich die gekriegt hab?«

Ich schüttelte den Kopf. Hanny starrte ihn an.

»Bin vom Dach gefallen. Der Knochen ist direkt hier durchgegangen«, erklärte er und demonstrierte mit seinem Finger den Winkel, in dem sein Unterarmknochen hervorgestanden hatte.

»Habt ihr vielleicht ’ne Kippe?«

Ich schüttelte erneut den Kopf, und er seufzte.

»Mist! Wusste doch, ich hätte in Catterick bleiben sollen«, kam es erneut völlig unvermittelt.

Es war schwer zu sagen – und er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit den auf robuste Weise gutaussehenden Veteranen, die ständig in meinen Commando-Comics auftauchten –, aber ich nahm an, dass er vom Alter her im Krieg gekämpft haben musste. Und tatsächlich, als er sich in einem Hustenanfall krümmte und seine Tellermütze abnahm, um sich den Mund abzuwischen, blitzten an deren Vorderseite ein paar verbogene metallene...

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