Die Flügel der Freiheit - Historischer Roman

Die Flügel der Freiheit - Historischer Roman

von: Tilman Röhrig

Piper Verlag, 2016

ISBN: 9783492975070

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 1594 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Flügel der Freiheit - Historischer Roman



4

Es schneite nicht mehr. Noch hing der Himmel grau, unter ihm aber dehnte sich die Ebene, bedeckt mit weichem, reinem Weiß. Weit vorn erkannte Barthel die beiden Kirchtürme von Allstedt, umringt von geduckten Hausdächern, aus den Schornsteinen stieg Rauch hinauf zum Bergrücken, und dort thronte über allem die mächtige Burg. »In einer Stunde hab ich es geschafft. Ach, Dorlein …« Er reckte sich im Sattel. »Ich komme!«, jubelte er, wollte pfeifen, es gelang nicht, die verfrorenen Lippen ließen sich nicht runden. Seit drei Tagen war er unterwegs. In Salza hatte er die alte Lisa wohlbehalten bei den Eltern wieder im Stall untergebracht und war auf dem braunen Wallach seines Meisters weitergeritten.

»Waschen muss ich mich.« Nur die Stiefel hatte er abends in den Herbergen ausgezogen. Eine strohgestopfte Matratze, eine Decke, mehr gaben die Wirte nicht her, und so entstand allein Wärme, wenn die Reisenden, ob nun Verwandte oder Fremde, Mann oder Frau, auf der breiten Bettstatt enger zusammenrückten. Morgens war nur ein Eisklumpen in der Waschschüssel gewesen.

»Ein Bottich mit dampfendem Wasser …« Barthel schüttelte den Kopf. »Nein, erst ein Kuss, dann der Bottich.« Er unterbrach sich, roch in seine Jacke. »Besser erst waschen. So wie du stinkst.«

Das Stadttor stand weit offen. Unter dem Bogen hielt Barthel das Pferd an, wartete, doch niemand kam. Er stellte sich in die Steigbügel, blickte nach rechts ins Guckfenster, die Wachstube war leer. »Ah, verstehe. Da drinnen ist es sicher zu kalt«, feixte er. »Und so spät am Tag kommt der Feind nicht. Jetzt wird sich daheim aufgewärmt.«

Leises Schnalzen und der Braune trottete weiter. Nur wenig Schnee bedeckte das Pflaster, doch dämpfte er den Hufschlag. Vorbei an St. Wigberti, bog Barthel nach links ab in Richtung Stadtkirche.

Das Hoftor, einfach aus Balken und Brettern gezimmert. Mein Himmelstor. Sein Herz schlug heftiger. Vergessen waren der steife Rücken, die verfrorenen Glieder, neu erwacht schwang er sich aus dem Sattel, band den Wallach an und drückte die Pforte auf. Gleichmäßiges Hämmern drang aus der Werkstatt im Nebengebäude. Geruch nach Holzbrand, vermischt mit Duft von gekochten Rüben erfüllte den Hof. Barthel ging direkt zum Haupthaus, pochte kaum hörbar an die Küchentür und wartete nicht. Bei seinem Eintreten rührte Frau Gerlach im Tiegel über dem Feuer, eine leicht füllige Gestalt, das angegraute Haar zum Knoten am Hinterkopf gesteckt. Sie wandte sich nicht um, sagte nur erstaunt: »Bist du schon zurück, Mädchen?«

Er trat einige Schritte näher. »Nein, ich bin’s nur.«

»Wer?« Sie blickte über die Schulter. Der erste Schreck wurde gleich vom Lächeln weggewischt. »Du? Aber ich wusste gar nicht …?«

Barthel dienerte. »Bitte verzeiht.« Kurz berichtete er von seinem Botenritt. »Vorher schreiben ging nicht. Und da dachte ich …«

»Du bist mir immer willkommen.« Agathe Gerlach ging auf ihn zu, der Blick ihrer hellen Augen prüfte den jungen Burschen mit mütterlichem Wohlwollen, sie fasste seinen Arm, ließ die Hand aber gleich wieder sinken. »Warst du schon in der Werkstatt?«

»Nein. Ich wollte zuerst …«

»Dummer Junge«, sie furchte die Stirn, »erst musst du ihn begrüßen. Immer zuerst den Hausherrn.« Leise setzte sie hinzu: »Ordnung bedeutet so viel für meinen Konrad. Dorothea ist ohnehin nicht da. Sie fegt und wischt mit anderen Mädchen drüben in St. Johannis. Sonst verkommt unsere Kirche ganz.« Ein leises Lachen, und Agathe Gerlach deutete an sich hinunter. »Und meinetwegen bist du sicher nicht hier.«

»So will ich das auch nicht sagen …«, beeilte sich Barthel.

»Nicht weiter, sonst bricht dir noch die Zunge.« Der Finger zeigte zur Tür: »Und nun geh rüber zum Vater.«

Schlag und Schaben und wieder der kurze Schlag, gefolgt von Schaben, ein leichter, fast beschwingter Rhythmus. Konrad Gerlach saß vor dem Amboss, seine Linke drehte die Wand des Messingkelches auf dem Horn, und die Rechte führte den Polierhammer. Schlag und Schaben. Er sah nur kurz auf, graue, scharfe Augen unter buschigen Brauen, ein hageres Gesicht. »Bin gleich so weit.«

Drüben von der Feuerstelle stieg bläulicher Rauch auf, verteilte sich träge unter der Decke. Barthel verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Wie aufgeräumt es hier ist. Haken, Scheren, die Eisen und die verschiedenen Hämmer, jedes Werkzeug hatte seinen Platz an den Wänden. Die Bleche sorgfältig gestapelt, Messing, Kupfer …

»Ja, schau dich nur um.« Konrad Gerlach stellte das Gefäß neben dem Amboss ab und erhob sich. Auch nach dem Räuspern blieb die Stimme eng in der Kehle: »Ich könnte einen tüchtigen Lehrbuben gebrauchen.«

»Sehr freundlich. Aber Spengler ist nichts für mich.« Barthel zeigte die Hände. »Da hätte ich nur blaue Finger vom Draufhauen. Da lerne ich lieber das Formschnitzen und Drucken …« Er stockte. Die Miene des Hausherrn hatte sich verdüstert.

Eilig dienerte Barthel. »Verzeiht, ich hab gleich dahergeredet. Erst mal: Gott zum Gruß, Meister Gerlach. Ich war in Eisenach und bin auf dem Weg zurück nach Wittenberg.«

»Über Allstedt? Ein ziemlicher Umweg.«

»Für mich nicht«, beteuerte er viel zu rasch und nahm sich gleich zurück: »Ihr wisst schon, warum.« Ein Schlucken half. »Ich bitte um Gastfreundschaft. Herberge, wollte sagen, ein Bett … Nur für eine Nacht. Und wenn ich mein Pferd unterstellen darf?«

»So gefällst du mir. Sei unser Gast, junger Mann.« Leichtes Lächeln zeigte sich in den Mundwinkeln. »Ich denke, auch meine Tochter wird nichts einzuwenden haben.«

Um sich nicht durch die Vorfreude im Gesicht zu verraten, dienerte Barthel wieder. »Danke, Meister.«

Frau Gerlach öffnete die Tür, mit kurzem Blick prüfte sie die Stimmung zwischen den Männern. »Gottlob. Begrüßt habt ihr euch also schon.« Aufmunternd blickte sie ihren Gatten an. »Es ist doch schön, dass der junge Herr Bartholomäus uns mit seinem Besuch beehrt?« Ehe eine Antwort kam, setzte sie hinzu: »Deshalb will ich den Rübentopf aufbessern. Bitte, Mann, geh und schlachte uns ein Huhn!«

Meister Gerlach hob die Brauen. »Heute ist Mittwoch und kein Sonntag.« Scharf sog er die Luft ein. »Oder gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

»Nur eine Ausnahme. Bitte!« Mit beiden Händen beschwichtigte sie. »Nur zur Feier des Tages.«

Es dauerte, dann erst glättete sich wieder die Stirn. »Meinetwegen.« Konrad Gerlach deutete auf den Gast. »Bring dein Pferd nebenan in die Scheune, versorgen kannst du es später, und komm nach zum Hühnerstall. Kannst mir helfen.«

Als Barthel durch den schmalen, dunklen Brandstieg zwischen Werkstatt und Scheune in den angrenzenden Garten gelangte, verließ Meister Gerlach gerade den Hühnerstall. Er hielt die Henne an beiden Füßen gepackt, und das Tier flatterte, gackerte. Als hörte er das empörte Gezeter nicht, wies Konrad mit der freien Hand zum hoch gestapelten Brennholz an der Scheunenwand. »Rück den Hackklotz weiter nach drüben. Will das Freilaufgehege nicht versauen, sonst legen mir die andern zwei Tage nicht.«

Barthel gehorchte, schleppte den klobigen Holzklotz vor der Brust einige Schritte in die schneebedeckte Wiese und setzte ihn ab. Als er sich umdrehte, stand der Vater seines Dorleins dicht hinter ihm. An der linken Faust hing das zappelnde Huhn, die andere hatte das Beil zum Schlag erhoben. Barthel zuckte zusammen. Ohne darauf zu reagieren, befahl der Meister nur: »Geh zur Seite!« Mit hartem Schlag hieb er die Schneide ins Holz. Er schwang das Huhn, ließ es am langen Arm wie ein Windrad kreisen, das Gackern geriet in entsetzte Schreie, dabei sah er Barthel scharf an. »Das nächste Mal, wenn du meinen Hof betrittst, kommst du erst zu mir und rennst nicht gleich ins Haus. Haben wir uns verstanden?«

»Verzeiht, Meister. Aber ich dachte …«

»Schweig! Versündige dich nicht mit einer Lüge.« Das Kreischen der Henne verstummte, und Konrad brach das Herumwirbeln ab. Kurz überzeugte er sich von der Benommenheit, dann presste er den Federleib seitlich auf den Hackklotz, dass die Henne beide Flügel nicht bewegen konnte. Barthel sah den kleinen Kopf, den gezackten Kamm, er sah das Auge. Im gleichen Moment fuhr das Beil nieder. Blut spritzte. Geübt griff Konrad Gerlach wieder die Beine und hielt den Rumpf von sich. Jetzt erwachten die Flügel, ließen den Torso auf- und niederfahren. Blut, mehr und mehr schoss aus der Wunde, das wilde Flattern versprengte es rundum, färbte den Schnee.

Lachen ertönte im Durchstieg zwischen Werkstatt und Scheune, eilte voraus, Dorothea Gerlach erschien im Garten. »Barthel! Wie kommst du hierher? Ich fasse es …« Jetzt traf sie das Bild, der Liebste inmitten von blutgetränktem Schnee, auch der Vater stand dort, verspritzte das Blut der Henne auf dem reinen Wiesenlaken, dazu schlugen die Flügel den Takt. »Nein, nicht!«, stammelte sie und verbarg das Gesicht.

Barthel eilte zu ihr. »Aber, Dorlein. Wir haben nur … Ein Huhn.« Er wollte sie in den Arm nehmen, noch ehe er ihre Schultern berühren konnte, rief der Meister scharf: »Das genügt, junger Mann!« Nach einem Atemzug wurde die Stimme etwas weicher. »Tochter, so kenne ich dich gar nicht.«

Sie wischte über die Augen. »Verzeih, Vater. Es war nur der Schreck.« Sie schob einige Haarsträhnen zurück unters Kopftuch. »Mutter sagte, dass er …« Ein Blick zum Liebsten, im Braun ihrer Augen glomm das Bernsteinlicht auf. »Ich mein, dass Barthel angekommen ist. Vom Huhn hat sie nichts gesagt, oder ich war zu eilig. Deshalb wusste ich vom Schlachten nichts.«

»Jetzt weißt...

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