Die perfekte Unschuld - Thriller

Die perfekte Unschuld - Thriller

von: Helen Fields

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2018

ISBN: 9783732561292

Sprache: Deutsch

558 Seiten, Download: 1282 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die perfekte Unschuld - Thriller



KAPITEL 1


Es gab schlechtere Orte zum Sterben. Aber nur wenige entsetzlichere Arten. Ein idyllischer Sommertag lieferte die Kulisse – auf der einen Seite die Stadtlandschaft, in der Ferne die Silhouette des vor langer Zeit erloschenen Vulkans Arthur’s Seat. Die Musik war schon zu fühlen, ehe man sie hören konnte, pulsierte in den Knochen und kribbelte auf der Haut. Anfang Juli ging die Sonne spät unter in Edinburgh, und der Himmel kleidete sich in Schattierungen von Rosa, Gold und gedämpftem Orange. Vielleicht war das der Grund, warum niemand etwas merkte, als es geschah. Entweder das, oder es lag an der Mischung aus Drinks, Drogen und dem allgemeinen Hochgefühl. Das Festival war in vollem Gang. Drei Tage Party – feiern, faulenzen, lieben, essen und trinken, während eine Band nach der anderen auftrat und sich die Besucher mit immer weniger Kleidung und minimalistischer Körperpflege wohler und wohler fühlten. Könnte man das Gefühl der Ekstase fotografisch festhalten, wäre dies definitiv die passende Szene dafür. Ein Gefühl gemeinschaftlicher Freude flutete die im Gleichtakt hüpfende Menge, als wären Menschenmassen miteinander verschmolzen, um eine einzige, verzückte Kreatur mit tausend strahlenden Gesichtern hervorzubringen.

Inmitten all dessen und doch flüchtig wie eine Rauchfahne hatte der Mörder leichtfüßig und geschmeidig seine Klinge wie ein Band durch die Luft zu ihrem Ziel geführt. Der Schnitt war sauber. Glatt und tief. Das Ausmaß des Blutverlusts zeigte sich am Boden, und die Wunde klaffte zu weit auf, als dass Hände den Blutfluss hätten stoppen können. Nicht dass genug Zeit gewesen wäre, um das Opfer in einen Krankenwagen zu verfrachten. Nicht dass irgendjemand auch nur auf die Verletzung aufmerksam geworden wäre, ehe der Mann beinahe vollständig ausgeblutet war.

Detective Inspector Luc Callanach stand an der Stelle, an der der junge Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Seine Identität hatte noch nicht festgestellt werden können. In der Stunde, die seit dem Tod des Opfers vergangen war, hatte die Polizei bemerkenswert wenige Fakten zusammengetragen. Es war, so dachte Callanach, schon erstaunlich, dass sie in einer Menge von Tausenden von Leuten nicht einen nützlichen Zeugen hatten auftreiben können.

Der junge Mann hatte ganz einfach das rhythmische Hüpfen eingestellt, war langsam zusammengesackt, nach links und rechts geschwankt, nach vorn und hinten, gegen die Festivalbesucher um ihn herum geprallt und schließlich, die Hände an den Bauch gepresst, kollabiert. Ein paar der Umstehenden waren verärgert gewesen, gestört in ihrem Zuschauervergnügen. Zuerst war er als betrunken eingestuft worden, dann als drogenbenebelt. Erst als eine barfüßige Jugendliche in der Blutlache ausgerutscht war, war der Schrecken hörbar geworden, und dennoch hatte es bei all den Dezibel rundherum eine Ewigkeit gedauert, bis die Botschaft durchgedrungen war. Irgendwann hatten dann die Schreie die Musik überlagert, nachdem der arme Junge herumgerollt worden war, sodass seine Gedärme den Verlauf der Bewegung nachzeichneten wie ein fremdartiges, anhängliches Wesen, das im Glanz all des leuchtend roten Blutes im Sonnenschein funkelte.

Die Uniformierten waren nicht weit entfernt gewesen. Dies war eine riesige Veranstaltung, für die jede erdenkliche Sicherheitsvorkehrung getroffen worden war. Hatte man jedenfalls angenommen. Doch als sich die Polizisten, gefolgt von den Sanitätern, ihren Weg durch das Gedränge bahnten, einen Bereich räumten und den Tatort unter Kontrolle brachten, mussten sie ein logistisches Desaster bewältigen. Seufzend blickte Callanach zum Himmel empor. Auf diesem Tatort war mehr herumgetrampelt worden als in den Toilettenräumen eines Nachtclubs am Silvesterabend. Da war genug DNA im Umlauf, um einen neuen Planeten zu bevölkern. Es war eine forensische Wundertüte.

Die Leiche selbst war bereits auf dem Weg zum Leichenschauhaus, nachdem sie zuvor vor Ort fotografiert worden war, auch wenn das wenig nützen dürfte. Der Tote war zu häufig von Gutmenschen, panischen Zuschauern, Polizisten und Sanitätern bewegt worden, ehe er endlich in einem Bett aus zertrampeltem Gras und aufgewühlter Erde zur Ruhe gekommen war. Die leitende Pathologin, Ailsa Lambert, hatte sich ungewöhnlich schweigsam gezeigt und lediglich Anweisungen erteilt, respektvoll und vorsichtig mit der Leiche umzugehen und sie rasch an einen Ort zu schaffen, an dem sie keinen neugierigen Kameraobjektiven und keinem hysterischen Geschrei mehr ausgeliefert war. Callanach war dort, um den Tatort zu sichern – eine Vorstellung, die alle Grenzen der Ironie sprengte –, ehe er Ailsa in ihr Büro folgen würde.

Der kurze Blick, den Callanach in das Gesicht des Opfers hatte werfen können, sagte alles. Die Augen fest zugekniffen, als wollte es sich zwingen, aus einem Albtraum zu erwachen, der Mund zu einem Ausdruck geöffnet, der irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Schrei lag. Hatte der Mann einen Namen gerufen?, überlegte Callanach. Hatte er seinen Angreifer gekannt? Er hatte keine Papiere bei sich gehabt, nur ein bisschen Kleingeld in der Tasche seiner Shorts. Nicht einmal eine Armbanduhr hatte er getragen, und sein Schlüssel hatte an einer Schnur um seinen Hals gehangen. Wie abrupt der Tod ihn auch ereilt hatte, das Entsetzen, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass es schnell zu Ende ging, die Ahnung, dass der Zug Hoffnung abgefahren war, während um ihn herum die Menschen hüpften und sangen, musste ihm vorgekommen sein wie ein unendlich grausamer Witz. Und dann, ganz am Ende, hatte er nur noch Schreie gehört und Panik und Schrecken in dem Meer der Augen um ihn herum gesehen. Wie musste das gewesen sein, fragte sich Callanach, hier im strahlenden Sonnenschein allein auf dem harten Boden zu sterben? Das Einzige, was ihm am Ende auf dieser Welt noch geblieben war, konnte nur ein Gefühl entsetzlicher Furcht gewesen sein.

Callanach musterte die kuppelförmige Bühne mit den Verstärkern, den Instrumenten und der Beleuchtungstechnik und betete, dass eine der dort aufgebauten Kameras ein nützliches Detail festgehalten hatte. Jemanden, der es eilig hatte zu verschwinden, der sich anders bewegte als der Rest der Menge. The Meadows, ein weitläufiges Gelände, bestehend aus Parkanlagen und Spielfeldern, befand sich südlich des Stadtzentrums. An einem normalen Tag war dies ein schöner, friedvoller Ort. Mütter kamen mit ihren Kleinkindern her, Spaziergänger führten ihre Hunde aus, und Jogger drehten ihre Runden. Die Klänge von »Summer is A-Coming In« aus dem Film The Wicker Man, in den ihn DI Ava Turner vor einigen Monaten geschleppt hatte, hallten durch Callanachs Hinterkopf. Edward Woodwards Schauspielkunst hatte ihn fasziniert, und die Bilder der Männer und Frauen mit Tiermasken, die sich auf ihr Menschenopfer vorbereiteten, waren ihm noch lange, nachdem der Projektor ausgeschaltet worden war, präsent geblieben. Das war nicht so unendlich weit entfernt von dem Zirkus, in dessen Zentrum dieser junge Mann den Tod gefunden hatte.

»Sir, die Leute, die hinter dem Opfer gestanden haben, wurden ermittelt. Sie können jetzt mit ihnen sprechen«, sagte ein Constable. Callanach folgte ihm zum Rand des Feldes und überließ es den Forensikern, einen provisorischen Unterstand zu errichten, um den Tatort über Nacht zu schützen. Ein Paar lehnte an einem Baum, eingewickelt in eine Decke, die Gesichter tränennass, und die Frau zitterte erkennbar, während der Mann versuchte, sie zu trösten.

»Merel und Niek De Vries«, las der Constable aus seinem Notizbuch vor. »Ein holländisches Paar, das hier Urlaub macht. Sind seit zehn Tagen in Schottland.«

Callanach nickte und trat vor, um allein und in Ruhe mit den beiden zu sprechen. »Ich bin Detective Inspector Callanach von der Police Scotland«, sagte er. »Ich weiß, das war erschreckend, und es tut mir leid, dass Sie so etwas miterleben mussten. Sicher haben Sie schon mehrfach beschrieben, was Sie gesehen haben, und man wird Sie noch einige weitere Male um Ihre Aussage ersuchen. Trotzdem bitte ich Sie, mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht, kurz zu berichten, was passiert ist.«

Der Mann sagte etwas zu seiner Frau, das Callanach nicht verstand, aber sie blickte auf und holte tief Luft.

»Meine Frau spricht nicht gut Englisch«, erklärte Niek De Vries, »aber sie hat mehr gesehen als ich. Ich kann für Sie übersetzen.«

Merel rasselte einige Sätze herunter, akzentuiert mit Schluchzern, ehe Niek wieder das Wort ergriff.

»Sie ist erst auf ihn aufmerksam geworden, als das Mädchen geschrien hat. Dann hat Merel sich gebückt und wollte ihn schütteln und ihm sagen, er solle aufstehen. Er kauerte vorgebeugt auf seinen Knien. Wir dachten, er wäre betrunken oder vielleicht krank. Als Merel sich wieder aufgerichtet hat, waren ihre Hände voller Blut. Sogar dann hat sie, wie sie sagt, gedacht, er hätte sich vielleicht übergeben oder sich die Haut aufgerissen. Erst als alle zurückgewichen sind und wir ihn hingelegt haben, haben wir die Wunde bemerkt. Es sah aus, als wäre er in zwei Teile geschnitten worden.« Niek schlug eine Hand vor die Augen.

»Ist Ihnen jemand aufgefallen, bevor er zusammengebrochen ist, jemand, der in seiner Nähe war, ihn vielleicht berührt oder sich an ihm vorbeigeschoben hat? Hatte es irgendjemand eilig, von dort zu verschwinden? Oder können Sie jemanden von den Leuten, die in Ihrer Nähe waren, detailliert beschreiben?«, erkundigte sich Callanach.

»Alle waren ständig in Bewegung«, antwortete Niek, »und wir haben zur Bühne geschaut, zur Band, wissen Sie? Wir haben hier keine Freunde, also haben wir uns auch nicht wirklich umgesehen. Die Leute...

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