Alles, was wir nie gesagt haben - Roman

Alles, was wir nie gesagt haben - Roman

von: Gabriele von Braun

beHEARTBEAT, 2018

ISBN: 9783732567157

Sprache: Deutsch

317 Seiten, Download: 1139 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alles, was wir nie gesagt haben - Roman



1


Es gibt diese Art von Abschied, die ein Leben in sich zusammen fallen lassen droht wie ein Soufflé. Mein Leben. Meine Tränen vermischen sich mit Schneeregen, der mir auf der zugigen Aussichtsplattform völlig unsentimental ins Gesicht peitscht. Die Boeing 777 ist verschwunden, geschluckt von gierigen, viel zu tief hängenden grauen Wolken. Dabei war ich noch längst nicht so weit, alles ging viel zu schnell. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Emma ist weg, gegangen an einem ungemütlichen Januarmorgen.

Ich kralle mich an Oliver fest. »Jetzt ist sie im Himmel«, schniefe ich mit brüchiger Stimme unter meiner riesigen Kapuze und drücke meine Nase in Emmas buntes Baumwolltuch, das ich mir umgeschlungen habe. Zum Abschied habe ich meinen dicken grauen Strickschal dagegen getauscht, den kann sie in der Kälte wesentlich besser gebrauchen. Das Tuch duftet so intensiv nach ihr, zart blumig, frisch und irgendwie ein bisschen nach Pfannkuchen. Es ist, als würde sie direkt vor mir stehen. Mein ganzer Körper zittert, mir ist bitterkalt.

»Katja! Hör auf damit! In neun Stunden kommt sie zurück auf die Erde«, schimpft Oliver und reibt mir die Schultern. Doch wärmer wird mir dadurch nicht. »Hilft es dir eigentlich irgendwie weiter, wenn du so tust, als sei Emma spurlos verschwunden?« Oliver zieht sich seine graue Strickmütze noch tiefer ins Gesicht.

»Das ist nicht witzig!«

»Sag ich ja. Sie ist sechzehn Jahre alt und sitzt im Flieger nach Philadelphia. Und sie freut sich riesig darauf, dort für ein halbes Jahr auf die Highschool zu gehen. Noch einmal: Sie lebt! Es geht ihr gut!«

Ich nicke matt. Oliver geht wesentlich entspannter damit um, dass unsere kleine Emma, der Mittelpunkt unseres Lebens, plötzlich flügge geworden ist. Er hat mich sogar gerügt, als ich ihr vorschlug, der Heimat vielleicht nur ein halbes Jahr den Rücken zu kehren. Ich solle ihr da nicht reinreden, sagte er. Dabei war er dann auch froh darüber, dass wir Weihnachten zusammen zu Hause feiern konnten. Nun muss ich damit leben, dass wir uns monatelang nicht sehen werden. Besuche und Heimflüge sind unerwünscht, da das Kind so nur abgelenkt werden würde, außerdem sei die Zeit ja sehr kurz, sagte die Mitarbeiterin der Agentur allen Ernstes. Kurz!

Oliver reißt mich aus meinen Gedanken. »Komm, wir müssen los. Um elf kommt Frau Hansen«, sagt er und schiebt mich wie ein kaputtes Auto in Richtung Parkplatz. Als ob mich jetzt Frau Hansen interessieren würde.

Oliver ist Dermatologe und hat eine gutlaufende Privatpraxis. Ich arbeite dort halbtags als Praxismanagerin, wie Oliver es nennt. Ich mag den Begriff nicht, er klingt zu groß. Kurz gesagt kümmere ich mich um Organisatorisches, den Einkauf und die Praxisausstattung.

»Hoffentlich fängt sich Emma durch die Klimaanlage im Flieger nichts ein! Wer soll sich denn um sie kümmern, wenn sie krank wird? Ach Oli, warum ist Loslassen nur so verdammt schwer? Es macht mir Angst. Wird es nach Emmas Rückkehr wieder genauso sein, wie es einmal war?«, sinniere ich auf dem Weg, Olivers starke Hand im Rücken.

Er antwortet nicht, sondern mustert mich im Gehen genervt von der Seite, aber da sehe ich noch etwas anderes in seinem Blick: Mitleid.

Das macht mich so ärgerlich, dass ich abrupt stehenbleibe und frage: »Warum schaust du mich an, als sei ich ein dreibeiniger Straßenköter? Sie ist auch deine Tochter!«

Oliver ist die Ruhe in Person, er schiebt mich einfach weiter. »Du kennst meine Meinung. Es ist gut und wichtig, dass Emma diesen Schritt geht. Und natürlich wird sich etwas verändert haben, wenn sie zurückkommt. Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so wäre. Außerdem wird es Zeit, dass du dich auch auf andere Dinge im Leben fokussierst. Unsere Tochter lernt nun, selbstständig zu werden. Das sollten wir feiern!«

Ich trete in eine mit dünnem Eis überzogene Pfütze und murmele: »Ja, unbedingt.«

Auf der Heimfahrt von Hamburg nach Kiel verwechselt Oliver die Autobahn mit dem Nürburgring. Aber statt mich darüber aufzuregen und diesen Leichtsinn anzuprangern, beiße ich mir auf die Zunge. Das Schicksal liegt nicht in unserer Hand – und noch mehr negative Energie führt zu nichts. Also ruhig bleiben, Thema wechseln. Das ist nicht leicht, aber ich bemühe mich zumindest.

»Morgen gehe ich einkaufen. Soll ich dir Rasierschaum mitbringen?«, frage ich also, anstatt zu brüllen: »Geht’s noch? Fahr sofort 100 km/h langsamer, ich hänge am Leben – und an Emma.«

»Hm«, brummt Oliver und macht das Radio lauter, es kommen Nachrichten.

Ich drehe die Sitzheizung voll auf und tanke wohlige Wärme, starre auf die vorbeiflitzende Landschaft und versuche, mich für Emma zu freuen. Aufbruch zu neuen Ufern, das ist doch wunderbar! Letztlich ist es wirklich egoistisch von mir, mich dagegen zu sperren und zu leiden, nur weil mein Kind glücklich ist und sich sein größter Wunsch erfüllt. Wenn ich sie nur jetzt nicht schon so vermissen würde!

Ich zähle die Markierungspfähle am Straßenrand und atme tief ein und aus. Plötzlich zieht ein alter schwarzer Volvo mit einem illuster beklebten Heck vor uns auf die linke Spur. Oliver tritt auf die Bremse. »Idiot!«, flucht er und zeigt der Windschutzscheibe einen Vogel.

»Hey, schau mal, das ist doch der gleiche Ärzte-ohne-Grenzen-Aufkleber, wie du ihn auf deinem klapprigen Käfer hattest. Den hätten wir nicht gesehen, wenn er rechts geblieben wäre«, versuche ich die Situation zu entschärfen.

Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht, geschweige denn einen solchen Aufkleber gesehen? Oliver und ich lernten uns während des Medizinstudiums kennen. Ich wollte Kinderärztin werden, und wir träumten beide davon, einmal gemeinsam für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten.

Ein melancholisches Lächeln umspielt Olivers Mund. »Der Käfer! Wie ich den geliebt habe! Mein Gott, ist das lange her. Damals schien alles möglich zu sein, die Welt stand uns offen.« In seinen Augen blitzt ein Leuchten auf, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe. »Und nun sitzen wir in einem BMW X5 mit Vollausstattung! Wenigstens funktioniert hier die Heizung«, fährt er fort und drosselt die Geschwindigkeit. Der Schneeregen ist stärker geworden, die Scheibenwischer laufen auf Hochtouren.

Im Radio berichtet eine viel zu gut gelaunte Männerstimme über den Weltcup im Skispringen.

»Mist! Der hatte doch alle Chancen!«, kommentiert Oliver aufgebracht.

Da überkommt mich plötzlich eine unsagbare Wehmut. Diese Chancen hatten wir auch einmal. Ich schlucke schwer. »Was wäre wohl gewesen, wenn damals nicht …« Meine Worte gehen in der Geräuschkulisse unter. Gut so, ich kann sowieso nicht weitersprechen. Nein, es ist nicht gut, an Tagen wie diesem daran erinnert zu werden, was hätte sein können.

Ich zappele auf dem Sitz hin und her und versuche krampfhaft, mich abzulenken. Wir überholen einen silbernen Toyota. Am Steuer sitzt eine ältere Frau, daneben eine etwas jüngere. Vielleicht ist das auch so eine Klammermutter wie ich. Ich versuche mich über mich selber lustig zu machen, indem ich mir vorstelle, dass ich Emma auch mit achtzig noch behüte wie den heiligen Gral. Aber so recht gelingt mir das nicht.

Unsere Praxis befindet sich in einem Neubau in weißgetünchter Bauhaus-Ästhetik mitten in der Stadt. In gewisser Weise ist Oliver tatsächlich ein Arzt ohne Grenzen geworden. Er hat es über die Schwelle Kiels hinaus zu Ruhm gebracht und sich als Anti-Aging-Papst von Schleswig-Holstein einen Namen gemacht, so zumindest stand es vor einiger Zeit in einem kostenlosen Wochenblatt. Seitdem läuft die Praxis noch besser. Oliver hat ein feines Händchen und den perfekten Blick für seine Patienten. Er erkennt in Sekunden, welche vermeintlichen Schwächen sich wie optimieren lassen. Dass die Gesichter, die er bearbeitet, meist zu gesunden Menschen gehören, stellt seine ärztliche Ethik schon lange nicht mehr infrage. Schließlich helfe er den Menschen dabei, sich besser zu fühlen, betont er gern und hat damit ja auch irgendwie recht. Früher hätten wir uns gemeinsam darüber aufgeregt, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Und so koordiniere ich den Praxisablauf und arbeite daran mit, den Patienten in den puristisch eingerichteten Räumen mit homöopathisch grün gestrichenen Wänden ein gutes Gefühl zu geben. Darüber hinaus ist Oliver ein hervorragender Arzt, der auch Krankheitsbilder behandelt, die mit dem Thema Schönheit so viel zu tun haben wie der Himalaya mit einer Sandburg. Neulich hat er einen jungen Mann, der wegen eines vermeintlichen Tumors an der Wange eine Zweitmeinung einholen wollte, behandelt. Der Patient litt fürchterlich und war völlig entstellt. Die Symptome, Blutungen und Juckreiz, sprachen für die finstere Diagnose. Doch Oliver fand heraus, dass die Geschwulst durch eingewachsene Haare verursacht wurde. Er entfernte sie, und der Mann war geheilt.

»Ah, da geht an diesem trüben Tag doch gleich die Sonne auf! Frau Hansen, guten Morgen. Wie geht’s? Folgen Sie mir unauffällig«, flötet Oliver augenzwinkernd.

Bis auf sie ist das Wartezimmer noch leer.

Frau Hansen legt eine Illustrierte zurück in den Wandhalter und erhebt sich schwerfällig. »Moin Oliver. Ach, ich kann dir sagen, es wird sicher nicht mehr besser.«

Oliver hakt sich bei ihr ein. »Dafür sehen Sie aber blendend aus! Und gleich noch ein bisschen besser.«

»Ach, mein lieber Herr Petersen, du hast auch immer einen passenden Spruch parat. Wenn ich dich nicht hätte.«

Die beiden kennen sich seit Olivers Kindheit. Seine Mutter ist mit Frau Hansen befreundet. Deswegen legt er sich bei ihr immer besonders ins Zeug und siezt sie nach wie vor, obwohl sie ihn seit jeher...

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