Liebes Kind - Thriller

Liebes Kind - Thriller

von: Romy Hausmann

dtv, 2019

ISBN: 9783423435611

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 823 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Liebes Kind - Thriller



Die Unfallnacht


Hannah


Am Anfang ist es leicht. Ich drücke meinen Rücken gerade und atme tief durch. Ich klettere in den Krankenwagen und fahre mit. Ich sage den Männern in den orangefarbenen Jacken Mamas Namen und dass sie Blutgruppe AB negativ hat. AB negativ ist die seltenste Blutgruppe und zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Antikörper gegen die Blutgruppen A und B besitzt. Das bedeutet, dass Mama das Blut aller anderen Blutgruppen bekommen kann. Das weiß ich, weil wir im Unterricht schon über Blutgruppen geredet haben. Und weil es im dicken Buch steht. Ich glaube, ich habe alles richtig gemacht. Erst, als ich aus Versehen an meinen Bruder denke, fängt mein Knie an zu zittern, das rechte. Jonathan wird sich bestimmt fürchten ohne mich.

Konzentrier dich, Hannah. Du bist doch schon ein großes Mädchen.

Nein, heute bin ich klein und dumm. Es ist kalt, es ist zu hell, es piept. Ich frage, woher das Piepen kommt, und einer der Männer in den orangefarbenen Jacken sagt: »Das ist das Herz deiner Mutter.«

Es hat noch nie gepiept, das Herz meiner Mutter.

Konzentrier dich, Hannah.

Die Fahrt ist wackelig, ich mache die Augen zu. Das Herz meiner Mutter piept.

Sie hat geschrien, es hat geknallt. Wenn das Herz meiner Mutter jetzt aufhört zu piepen, dann wird das das Letzte sein, was ich von ihr gehört habe, einen Schrei und einen Knall. Und sie hätte mir nicht mal Gute Nacht gesagt.

Der Krankenwagen macht einen kleinen Hüpfer, dann steht er.

»Wir sind da«, sagt der Mann. Er meint, beim Krankenhaus.

Ein Krankenhaus ist ein Gebäude, in dem durch ärztliche Hilfeleistung Krankheiten oder Verletzungen behandelt werden.

Der Mann sagt: »Nun komm schon, Mädchen.«

Meine Beine laufen wie automatisch und so schnell, dass ich gar nicht mehr mitkomme, meine Schritte zu zählen. Ich folge den Männern, die die ratternde Trage durch eine große Glastür unter einem grell beleuchteten Schild mit der Schrift »Notaufnahme« schieben, und dann weiter über einen langen Flur. Wie auf Kommando schwärmen von rechts und links Helfer heran, und viele Stimmen reden aufgeregt durcheinander.

»Du kannst hier nicht mit rein«, sagt ein dicker Mann in einem grünen Kittel und schubst mich ein bisschen zur Seite, als wir bei einer weiteren großen Tür am Ende des langen Flurs angelangt sind. »Wir schicken jemanden, der sich um dich kümmert.« Sein Zeigefinger fliegt in Richtung einer Stuhlreihe an der Wand. »Setz dich solange da hin.«

Ich will was sagen, aber die Worte kommen nicht raus, und der Mann hat sich sowieso schon längst umgedreht, um mit den anderen Helfern durch die Tür zu verschwinden. Ich zähle die Stühle an der Wand – sieben. Er hat nicht dazugesagt, auf welchen Stuhl ich mich setzen soll, der dicke Mann im grünen Kittel. Ohne es zu merken, habe ich angefangen, an meinem Daumennagel rumzukauen. Konzentrier dich, Hannah. Du bist doch schon ein großes Mädchen.

 

Ich sitze mit angezogenen Knien auf dem Stuhl in der Mitte und zupfe Tannennadeln und kleine braune Rindenplättchen aus dem Rock meines Kleides. Ich bin ziemlich schmutzig geworden heute Abend. Jonathan fällt mir wieder ein. Der arme kleine Jonathan, der zu Hause geblieben ist und saubermachen muss. Ich stelle mir vor, dass er weint, weil er nicht weiß, wie er die Flecken aus dem Teppich im Wohnzimmer rausbekommen soll. Ich bin mir sicher, dass wir im Vorratsraum die richtigen Putzmittel haben, nur hat Papa die Tür mit zwei Schlössern gesichert. Eine Vorsichtsmaßnahme, wie wir viele davon haben müssen. Man muss immer vorsichtig sein.

»Hallo?«, eine Frauenstimme.

Ich springe von meinem Stuhl auf.

»Ich bin Schwester Ruth«, lächelt die Frau und greift nach meiner Hand, um sie zu schütteln. Ich sage ihr, dass ich Hannah heiße und dass Hannah ein Palindrom ist. Ein Palindrom ist ein Wort, das vorwärts und rückwärts gelesen das Gleiche ergibt. Zum Beweis buchstabiere ich ihr meinen Namen, erst von vorn und dann von hinten. Schwester Ruth lächelt immer noch und sagt: »Verstehe.«

Sie ist älter als Mama, sie hat schon graue Haare, und sie ist ein bisschen rund. Über ihrem hellgelben Kittel trägt sie eine bunte Strickjacke, die schön warm aussieht und an der ein Anstecker mit einem Pandabärengesicht befestigt ist. »Be happy« steht da. Das ist Englisch und heißt »Sei glücklich«. Meine Mundwinkel zucken.

»Du hast ja gar keine Schuhe an, Kind«, bemerkt Schwester Ruth, und ich wackele mit dem linken großen Zeh durch das Loch in meiner Strumpfhose. An einem ihrer guten Tage hat Mama die Stelle schon mal gestopft. Sie würde bestimmt schimpfen, wenn sie wüsste, dass ich meine Strumpfhose schon wieder kaputtgemacht habe.

Schwester Ruth zieht ein Taschentuch aus ihrer Kitteltasche, weil sie denkt, dass ich weine. Wegen dem Loch in meiner Strumpfhose oder wegen Mama. Ich sage ihr nicht, dass es eigentlich nur am viel zu hellen Licht der Röhrenlampen an der Decke liegt, das mich blendet, sondern: »Danke, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.« Man muss immer höflich sein. Man muss immer bitte und danke sagen. Mein Bruder und ich sagen immer danke, wenn Mama uns einen Riegel gibt, obwohl wir die Riegel nicht leiden können. Sie schmecken uns nicht. Aber sie sind wichtig wegen der Vitamine. Calcium und Kalium und Magnesium und B-Vitamine für den Stoffwechsel und die Blutbildung. Wir essen jeden Tag drei, es sei denn, unser Vorrat ist aufgebraucht. Dann wünschen wir uns, dass Papa bald nach Hause kommt und unterwegs eingekauft hat.

Ich nehme das Taschentuch, tupfe über meine Augen und putze mir trötend die Nase, dann gebe ich es Schwester Ruth zurück. Man darf nichts behalten, was einem nicht gehört. Das ist Diebstahl. Schwester Ruth lacht und steckt das Taschentuch wieder in ihren Kittel. Ich frage natürlich auch nach Mama, aber Schwester Ruth sagt nur: »Sie ist in den besten Händen.« Ich weiß, dass das eigentlich keine Antwort ist, ich bin ja nicht blöd.

»Wann kann ich zu ihr?«, frage ich, aber auch darauf kriege ich keine Antwort.

Stattdessen sagt Schwester Ruth, dass sie mich in den Pausenraum mitnehmen will, um nachzuschauen, ob es dort ein paar Schlappen gibt, die ich anziehen könnte. Schlappen sind so was wie Hausschuhe. Jonathan und ich sollen zu Hause auch Hausschuhe anziehen, weil der Boden sich schlecht aufheizt, aber meistens vergessen wir es und machen unsere Strümpfe dreckig. Mama schimpft dann, weil noch gar nicht Wäschetag ist, und Papa schimpft, weil Mama den Boden nicht richtig sauber gemacht hat. Sauberkeit ist wichtig.

 

Der Pausenraum ist ein großes Zimmer, mindestens fünfzig Messschritte von der Tür bis zur gegenüberliegenden Seite. In der Mitte sind drei Tische mit jeweils vier Stühlen angeordnet. Dreimal vier macht zwölf. Einer der Stühle steht schräg. Da hat wohl jemand gesessen und dann nicht wieder richtig aufgeräumt, als er gegangen ist. Hoffentlich hat er dafür Ärger bekommen. Ordnung ist nämlich auch wichtig. Die linke Wand des Raums wird ausgefüllt von einem Metallschrank mit vielen einzelnen abschließbaren Fächern, an denen aber fast überall kleine Schlüssel stecken, und einem Hochbett, auch aus Metall. Geradeaus sind zwei große Fenster, durch die man die Nacht sehen kann. Schwarz und ohne Sterne. Rechts ist eine Küchenzeile. Da steht sogar ein Wasserkocher offen auf der Arbeitsfläche rum. Dabei kann heißes Wasser sehr gefährlich sein. Ab einer Temperatur von 45 Grad verschmort die Haut. Ab 60 Grad stockt das Eiweiß in den Hautzellen, wodurch sie absterben. Im Wasserkocher wird das Wasser auf hundert Grad erhitzt. Wir haben auch einen Wasserkocher zu Hause, aber wir sperren ihn weg.

Schwester Ruth sagt: »Setz dich ruhig.«

Drei mal vier macht zwölf. Zwölf Stühle, ich muss nachdenken. Die sternenlose Schwärze hinter den Fensterscheiben lenkt mich ab.

Konzentrier dich, Hannah.

Schwester Ruth geht zum Schrank und schließt ein Fach nach dem anderen auf und wieder zu. Sie macht ein paarmal langgezogen »hmmm«, dazwischen klappern die Metalltüren. Schwester Ruth sieht über ihre Schulter in meine Richtung und sagt noch mal: »Ja, setz dich doch ruhig, Kind.«

Erst denke ich, ich sollte vielleicht den Stuhl nehmen, der sowieso schräg steht. Aber das wäre nicht gerecht. Jeder muss für sich selbst aufräumen. Verantwortung übernehmen. Du bist ein großes Mädchen, Hannah. Ich nicke ins Leere und zähle heimlich ab, ene mene miste. Übrig bleibt ein Stuhl, von dem aus ich die Tür gut im Blick habe und den ich später natürlich auch wieder ordentlich an den Tisch rücken werde, wenn Schwester Ruth sagt, dass ich fertig bin mit Sitzen.

»Na, also«, lächelt sie, als sie sich mit einem Paar pinkfarbener Gummilatschen in der Hand zu mir umdreht. »Die sind zwar ein bisschen groß, aber besser als nichts.« Sie stellt mir die Schuhe vor die Füße und wartet, bis ich reingeschlüpft bin.

»Hör mal, Hannah«, sagt sie dann, während sie gleichzeitig ihre Strickjacke auszieht. »Deine Mama hatte keine Handtasche dabei, als der Unfall passiert ist. Das heißt, wir haben keinen Ausweis von ihr gefunden und auch sonst keine Papiere.«

Sie greift nach meinem Arm, hält ihn gestreckt und fummelt das Ärmelloch ihrer Strickjacke über meine Hand.

»Jetzt haben wir keinen Namen und keine Adresse. Und leider auch keinen Notfallkontakt.«

»Sie heißt Lena«, helfe ich weiter, wie auch schon vorhin im Krankenwagen. Man muss immer hilfsbereit sein. Mein Bruder und ich helfen Mama immer, wenn ihre Finger zittrig sind. Oder wenn sie wieder Sachen vergisst, unsere Namen...

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