Das Bernsteinmädchen - Roman

Das Bernsteinmädchen - Roman

von: Hans Meyer zu Düttingdorf

Aufbau Verlag, 2021

ISBN: 9783841226457

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 2019 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Bernsteinmädchen - Roman



Kapitel 2


Elena schmeckte das Salz auf der Zunge. Sand rieb an ihren Füßen, der Wind spielte mit ihrem Haar.

Viel zu selten waren diese Momente am Meer, in denen sie ihren Pflichten entfloh. Sie konnte sich kaum mehr an die Zeit erinnern, als es noch ihre Mutter war, die sich um die Angestellten der Hotelgäste gekümmert und für deren Unterkunft und Verpflegung gesorgt hatte. Die bunte Mischung aus Fahrern, Zofen, Mädchen und sogar auch mal einem Butler, die als Gefolge der Noblen und Reichen die Sommerwochen zwischen Weihnachten und Ostern hier am Meer verbrachten, war zwar weniger anspruchsvoll, als es ihre Herrschaften in den Zimmern und Suiten des Hotels Quequen zu sein pflegten, doch schließlich wollten auch sie neben der Arbeit mit ihrer eigenen Herrschaft ein bisschen Sommerfrische genießen und dabei gut versorgt werden.

Elenas Gerichte waren deftig, die Portionen reichlich. Und die Abende, die in der Regel dann begannen, wenn sich gnädige Frau und edler Herr zur Ruhe begeben hatten, dauerten meist bis spät in die Nacht und verliefen oft feuchtfröhlich. So manches Mal musste Elenas Vater seine Gäste zur Ruhe mahnen, damit das Gejohle nicht zum Hotel hinüberscholl.

Seit einigen Jahren schon war Elena diejenige, die die einfachen Zimmer richtete und für Mahlzeiten am langen Tisch der Gesindeunterbringung sorgte. Währenddessen kümmerte sich ihr Vater als Hausmeister um das Hotel, angetrieben vom stets hektischen Direktor, der die ausgefallenen Wünsche seiner Gäste an ihn weitergab.

»Ich bin froh, dass ich die nicht auch noch bedienen muss«, hatte Elenas Vater mal gesagt. Ihm reiche es schon, das Hotel am Laufen zu halten. Unzählige goldglänzende Wasserhähne durften nicht tropfen, Badeöfen mussten gewartet und der Springbrunnen im Patio kontrolliert werden. Dazu kamen noch die Pferdeställe und Kutschenremisen, für die zwar ein Schirrmeister zuständig war, der ihren Vater bei handwerklichen Dingen aber gerne zurate zog. Einige der Gäste reisten mit dem eigenen Automobil an, und deren Fahrer nächtigten nicht nur in der Angestelltenunterkunft, sondern fragten auch nach dem ein oder anderen Werkzeug, manchmal sogar nach Ersatzteilen, die allerdings in Quequen, sechshundert Kilometer von Buenos Aires entfernt, nicht immer leicht zu besorgen waren.

Das Hotel Quequen gehörte zu den ersten Adressen, wenn es um Urlaub am Meer ging. Prachtvoll erstrahlte es unter der argentinischen Sonne. Die Zimmer und Suiten des Hotels reihten sich entlang einer weiß getünchten Klausur um einen Innenhof, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Ein ausladender Eukalyptusbaum spendete Schatten. Die Gäste verbrachten dort gerne die heißen Stunden des Tages bei Tee, Kaffee und Petits Fours, plauderten angeregt oder lauschten den Pianoklängen, die durch die offenen Fensterflügel des Salons in den Hof drangen. Weiß livrierte Kellner huschten lautlos zwischen Korbsesseln hin und her, räumten ab, schenkten nach und lasen den verwöhnten Augen Wünsche ab.

Das Hotel Quequen war das Zuhause von Elenas Familie. Vater und Mutter hatten sich hier kennengelernt. Er war damals neu eingestellter Hausmeister, sie zu der Zeit noch Zimmermädchen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Kurz darauf meldete sich bereits Elenas Ankunft an. Schnell wurde geheiratet. Als sich die vorherigen Betreiber der kleinen Angestelltenpension zur Ruhe setzen wollten, zögerten die zwei keinen Augenblick, ergriffen die Chance und übernahmen die Pension.

Und so wuchs Elena zwischen Gesindetisch und Hotelwerkstatt auf. Sie half beim Auftragen des Essens, stand an der Spüle und schüttelte die Gästebetten auf. Wenn in der Pension für sie nichts zu tun war – doch diese Momente waren selten –, so lief sie an den Strand. Ihre Liebe galt dem Meer. Die ewigen Wellen, die den Strand streiften, die Möwen, die in der Luft über den Klippen standen, und der ständige Wind, der hier in der Bucht der Winde, der bahia des los vientos, niemals schwieg. Die Bucht trug diesen Namen aufgrund eines bemerkenswerten Wetterphänomens: In den Sommermonaten passierte es, dass der Wind innerhalb weniger Stunden seine Richtung wechselte und sich einmal um sich selbst drehte. Eben noch blies er kalt vom Meer und trieb die Erinnerung des Südpols vor sich her, dann kam er schon heiß und trocken vom Land, wo er zuvor den Arbeitern auf den Feldern der Estancia den Staub auf die Haut geklebt hatte, um am Abend wieder aus der Richtung des ewigen Eises über den Ozean zu wehen.

Bei den Seefahrern war die Bucht der Winde und deren Einfahrt zum Hafen von Quequen ob ihrer schweren Schiffbarkeit berüchtigt. Felsen knapp unter der Wasseroberfläche lauerten darauf, den Männern bei stürmischer See ein kaltes Grab zu bereiten. Es waren nicht wenige Schiffe, die im Laufe der Zeiten hier gekentert waren.

Der Wind brachte aber nicht nur Wellen und Gefahr. Wenn die Strömung günstig stand, so schenkte er Elena das Gold des Meers, vor allem in den Wintermonaten. Sie hatte eine besondere Gabe, Bernstein zu finden. Schon als Kind funkelten ihr die kleinen Steine zwischen dem Sand und Kies entgegen, bevor die Wellen drohten, sie wieder ins Meer zurückzuziehen. Elena kniete sich auf den Strand und legte ihren Kopf so flach auf den Sand wie es nur eben ging, ohne dabei nass zu werden. Im Gegenlicht der Sonne entdeckte sie die winzigen Spitzen, die nur für wenige Augenblicke aufleuchteten. Es war, wie auf die Pirsch zu gehen, der Bernstein war das Wild, Elena die Jägerin.

»Du bist mir ein rechtes Bernsteinmädchen, Helena!«, hatte Mutter ihr einst gesagt. H-elena, mit einem stimmhaften H am Anfang. Niemand sonst sprach ihren Namen so aus. Es erinnere ihre Mutter an Deutschland, das Herkunftsland ihrer Ahnen, hatte sie einst gesagt. Sie hatte immer sehr viel Wert auf ihre Herkunft gelegt. Schließlich hatte sie sich sogar bei der Schreibweise des Namens im Geburtsregister gegen ihren Mann durchgesetzt: Helena – mit einem H am Anfang. Elena lernte Deutsch als zweite Sprache. Sie sprach es perfekt. Deutsch war nicht nur die Sprache ihrer Mutter, es wurde zu einer Art Geheimcode zwischen ihnen beiden. Vater tat verärgert, wenn die zwei auf Deutsch tuschelten, letztlich aber war es ihm nicht wichtig.

Diese schöne Zeit lag aber schon Jahre zurück. Mutters Tod hatte ihrer aller Leben grundlegend verändert. Elena musste viel zu früh erwachsen werden und Vater fand nie wieder zu seiner alten Fröhlichkeit zurück. Wenn es doch wenigstens noch Großeltern oder andere Verwandte gegeben hätte, Geschwister vielleicht, Onkel oder Tanten. Aber Mutter hatte Elena und ihren Vater allein zurückgelassen.

Über vier Jahre war das her. Noch vor ihrem Tod hatte Mutter erzählt, dass ein gewisser Hitler jetzt in Deutschland die Führung übernommen habe. Es wurde darüber nicht allzu viel in Argentinien berichtet, zudem hatten sie alle ohnehin keine Zeit, um über Politik nachzudenken, über Weltpolitik schon gar nicht. Mutter hatte nur gemeint, dass sie hoffe, dass es dem Land ihrer Vorfahren nun besser ergehen würde. Dieser Hitler versprach Besserung, versprach Arbeit, versprach dem Hunger drüben ein Ende zu bereiten.

Kurz darauf hatten sich erste Anzeichen der Krankheit gezeigt. Anfangs war es nur schleppend gewesen: Mutter hatte über Rückenschmerzen geklagt, mal eine Schwäche hier, ein Schwindelgefühl dort. Manchmal war ihr nur leicht übel gewesen, an anderen Tagen bekam sie kaum einen Löffel Suppe herunter. Sie hatten es auf die viele Arbeit geschoben, die Anstrengung sei einfach zu groß. Alle hatten das gesagt und sie drei hatten eifrig genickt. Sie hatten den anderen glauben wollen. Selbst noch zu dem Zeitpunkt, als Mutter immer häufiger das Bett hatte hüten müssen. Es gab Tage, da verließ sie es gar nicht mehr. Und auch die Schmerzen im ganzen Körper nahmen zu. Schließlich wurden die Zeiten, in denen sie auf war, zur Ausnahme. An jenem Tag, den Elena nie vergessen würde, hatte Mutter ihr übers Haar gestrichen und matt gelächelt.

»Meine Kleine. Meine Helena. Es tut mir leid, dass ich euch so im Stich lasse.«

»Mutter, du lässt uns doch nicht im Stich«, hatte Elena erwidert. »Das wird doch bestimmt wieder gut. Schau mal, Mutter, ich nehme dir so viel Arbeit ab, wie es eben nur geht. Dann kannst du dich erholen.«

Ihre Mutter hatte mit aufeinandergepressten Lippen gegen ihre Tränen gekämpft. Dann hatte sie Elena hinausgeschickt. Sie solle an den Strand gehen und ihr einen Bernstein suchen, hatte sie gemeint und sich von ihrer Tochter weggedreht.

»Das mache ich, Mutter!«, war Elena aufgesprungen. »Ich bin gleich zurück. Und du wirst sehen, ich werde den schönsten Bernstein für dich finden, den du je gesehen hast.«

Elena war mit bloßen Füßen zum Meer gelaufen. Es war früher Sommer, hoffentlich würde sie überhaupt einen Bernstein sehen. Zur warmen Jahreszeit stand die Strömung schlecht, da wurden nur selten Steine aus dem Meer angespült.

Sie kniete sich dorthin, wo der Spülsaum sich über den Strand erstreckte. Ihren Kopf senkte sie so weit hinunter, dass ihr Ohr nass wurde. Das Wasser war noch kalt, aber das machte ihr gar nichts. Sie wollte ihr Versprechen halten und für Mutter den schönsten Bernstein finden, den diese je gesehen hatte.

Der nasse Sand schien wie eine Fläche aus unruhigem Silber. Die Sonne ließ ihn glitzern. Elena kniff die Augen zusammen und ihr Blick glitt prüfend über die winzigen Steine, aber kein Bernstein feuerte sie an. Plötzlich ließ sie eine Stimme aufhorchen.

»Helena, Liebes, was machst du denn da?«

»Mutter!« Mit...

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