Das Ministerium für die Zukunft - Roman

Das Ministerium für die Zukunft - Roman

von: Kim Stanley Robinson

Heyne, 2021

ISBN: 9783641280185

Sprache: Deutsch

720 Seiten, Download: 2021 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Ministerium für die Zukunft - Roman



1


ES WURDE HEISSER.

Frank May erhob sich von seiner Matte und tappte hinüber zum Fenster, um hinauszuschauen. Braune Putzwände und Ziegel, umbrafarben wie der Lehm aus der Gegend. Quadratische Wohnblocks wie der, in dem er sich befand, die Dachterrassen besetzt von Bewohnern, die nachts hinaufgestiegen waren, weil es drinnen zu heiß zum Schlafen war. Mehrere von ihnen standen hinter den brusthohen Mauern und spähten nach Osten. Der Himmel war braun wie die Häuser, vermischt mit dem Weiß des nahenden Sonnenaufgangs. Frank atmete tief ein. Die Luft erinnerte ihn an eine Sauna. Es war die kühlste Zeit des Tages. In seinem ganzen Leben hatte er keine fünf Minuten in einer Sauna zugebracht, er empfand das als unangenehm. Heißes Wasser ging vielleicht noch, aber heiße, feuchte Luft auf keinen Fall. Es war ihm ein Rätsel, wie jemand an so einem beklemmenden, stickigen Gefühl Gefallen finden konnte.

Hier konnte man ihm nicht entrinnen. Wenn er es sich vorher richtig überlegt hätte, wäre er bestimmt nicht hergekommen. Es war die Partnerstadt seines Heimatorts, doch es gab auch noch andere Partnerstädte, andere Hilfsorganisationen. Er hätte zum Beispiel in Alaska arbeiten können. Stattdessen tropfte ihm jetzt brennender Schweiß in die Augen. Er war nass, obwohl er nur Shorts trug, die ebenfalls nass waren; auf seiner Matte, auf der er schlaflos gelegen hatte, zeichneten sich feuchte Flecken ab. Er hatte Durst, und die Kanne neben seinem Bett war leer. Wie ein Schwarm von Riesenmücken surrten überall in der Stadt angestrengt die Klimageräte in den Fenstern.

Und dann durchbrach die Sonne den östlichen Horizont. Sie blitzte auf wie eine Atombombe – sie war ja auch eine. Die Felder und Häuser unter diesem gleißenden Lichtsplitter wurden dunkel und dunkler, als der Splitter sich zu einer lodernden Linie verbreiterte und dann zu einer Sichel anschwoll, die er nicht ansehen konnte. Die heranbrandende Hitze war spürbar wie eine Ohrfeige. Die Sonnenstrahlung erwärmte sein Gesicht und ließ ihn blinzeln. Seine Augen tränten so stark, dass er nicht viel erkennen konnte. Alles war lohfarben, beige und unerträglich grell. Eine ganz normale Stadt in Uttar Pradesh um sechs Uhr früh. Er warf einen Blick auf sein Telefon: achtunddreißig Grad. Luftfeuchtigkeit ungefähr sechzig Prozent. Die Kombination war das Entscheidende. Vor einigen Jahren wäre das noch eine der höchsten je gemessenen Feuchtkugeltemperaturen gewesen. Jetzt war man ihr schon an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen ausgesetzt.

Vom Dach auf der anderen Straßenseite drangen bestürzte Klagen herüber. Zwei junge Frauen, die sich über die Mauer lehnten und hinunter zur Straße riefen. Jemand dort oben rührte sich offenbar nicht mehr. Frank griff nach seinem Telefon und tippte die Nummer der Polizei. Keine Antwort. Er konnte nicht erkennen, ob die Leitung noch funktionierte oder nicht. Wie in Wasser getaucht, schrillten jetzt in der Ferne Sirenen. Mit dem Morgengrauen entdeckten die Menschen angegriffene Schlafende, die nach der langen, heißen Nacht nicht mehr aufwachen wollten. Die Sirenen schienen darauf hinzudeuten, dass zumindest einige Anrufe durchgekommen waren. Frank schaute wieder auf sein Telefon. Es war geladen und zeigte eine Verbindung an. Aber keine Antwort von der Polizeistation, die er in seinen vier Monaten hier schon mehrmals eingeschaltet hatte. Zwei ganze Monate lagen noch vor ihm. Achtundfünfzig Tage, viel zu lange. 12. Juli – und noch kein Monsun in Sicht. Gut, erst mal heute überstehen. Ein Tag nach dem anderen. Dann heim nach Jacksonville, wo im Vergleich zu der Glut hier absurde Kälte auf ihn wartete. Viele Geschichten zu erzählen. Doch die armen Leute auf dem Dach gegenüber …

Mit einem Mal brach das Rauschen der Klimageräte ab. Wieder betroffene Schreie. Sein Telefon zeigte keine Balken mehr. Kein Netz. Stromausfall. Sirenen wie das Jammern von Gottheiten, der gesamte Hindu-Pantheon in Not.

Schon sprangen Generatoren an, laute Zweitaktmotoren. Benzin, Diesel, Petroleum, aufgespart für Situationen wie diese, wenn die gesetzlichen Vorschriften zur Verwendung von Flüssigerdgas unter der Realität nachgaben. Die ohnehin schon schlechte Luft würde sich bald in einen Schleier aus Abgasen verwandeln. Als würde man direkt hinter dem Auspuffrohr eines alten Busses einatmen.

Bei dieser Vorstellung musste Frank husten und griff wieder nach der Kanne an seinem Bett. Sie war noch immer leer. Er trug sie hinunter und füllte sie aus dem Filterbehälter im Kühlschrank. Auch ohne Strom immer noch kalt, und er konnte damit rechnen, dass das Wasser in der Thermoskanne eine Weile so blieb. Zur Sicherheit warf er noch eine Jodtablette hinein und schraubte den Deckel fest zu. Das Gewicht fühlte sich beruhigend an.

Die Stiftung hatte unten in der Abstellkammer einen Generator und mehrere Kanister Benzin deponiert, genug, um ihn zwei oder drei Tage lang zu betreiben. Gut zu wissen.

Seine Kollegen drängten durch die Tür. Hans, Azalee, Heather, alle mit roten Augen und durcheinander. »Komm«, drängten sie, »wir müssen los.«

»Wohin denn?«, fragte Frank verwirrt.

»Wir brauchen Hilfe, der ganze Stadtteil ist ohne Strom, wir müssen in Lucknow Bescheid sagen, damit Ärzte kommen.«

»Ärzte?«

»Wir müssen es versuchen!«

»Ich geh hier nicht weg«, sagte Frank.

Sie starrten ihn an und wechselten Blicke.

»Lasst das Satellitenhandy hier«, fügte er hinzu. »Holt Hilfe. Ich bleibe und sage den Leuten, dass ihr auf dem Weg seid.«

Unsicher nickten sie und eilten hinaus.

Frank zog ein weißes Hemd an und hatte es ein paar Sekunden später schon wieder durchgeschwitzt. Er trat hinaus auf die Straße. Dröhnende Generatoren pumpten Abgase in die überhitzte Luft. Vermutlich für den Betrieb von Klimageräten. Er unterdrückte ein Husten. Es war einfach zu heiß dafür. Das Wiedereinsaugen der Luft war, als würde man in einem Hochofen atmen, sodass man gleich wieder husten musste. Und von der Zufuhr dampfender Luft und der Anstrengung des Hustens wurde einem noch heißer.

Leute kamen jetzt auf ihn zu und baten um Hilfe. Schon unterwegs, erklärte er ihnen. Kommt um zwei Uhr Nachmittag in die Beratungsstelle. Jetzt bringt erst mal die Alten und Kleinen in klimatisierte Räume. Die Schulen oder das Rathaus haben bestimmt Klimaanlagen. Da müsst ihr hin. Folgt dem Geräusch der Generatoren.

In jedem Hauseingang standen verzweifelte Menschen, die auf eine Ambulanz oder einen Leichenwagen warteten. Auch für heftige Klagen war es zu heiß. Selbst Reden fühlte sich bei der Glut gefährlich an. Und was gab es schon zu sagen? Es war zu heiß zum Denken.

Immer noch steuerten Leute auf ihn zu. Bitte helfen Sie uns, Sir.

Kommt um zwei in die Beratungsstelle, wiederholte Frank ein ums andere Mal. Fürs Erste zur Schule. Geht rein, sucht nach klimatisierten Räumen. Bringt die Alten und die Kinder hier weg.

Aber es gibt nichts!

Da fiel es ihm ein. »Runter zum See! Geht ins Wasser!«

Sie schienen nicht zu begreifen. Wie bei der Kumbh Mela, versuchte er ihnen zu erklären, wenn die Leute nach Varanasi fuhren und im Ganges badeten. »Zum Kühlen. Im Wasser bleibt ihr kühler.«

Ein Mann schüttelte den Kopf. »Das Wasser liegt in der Sonne. Da ist es so heiß wie im Bad. Schlimmer als an der Luft.«

Frank atmete schwer, als er angespannt und beunruhigt zum See marschierte. Überall vor den Häusern Leute, zusammengedrängt in Eingängen. Einige beäugten ihn, doch die meisten waren zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Die Augen groß vor Leid und Angst, rot von der Hitze und den Abgasen, dem Staub. Metalloberflächen backten in der Sonne, er sah Hitzewellen aufsteigen wie über einem Grill. Seine Muskeln wurden zu Brei, nur ein Draht aus Angst hielt sein Rückgrat noch aufrecht. Am liebsten wäre er gerannt, doch das war ausgeschlossen. So weit wie möglich hielt er sich im Schatten, den die eine Straßenseite jetzt am frühen Morgen noch bot. In der Sonne war es, als würde man in ein Lagerfeuer geschoben. Angetrieben von der Glut, torkelte man auf den nächsten Schattenfleck zu.

Kurz darauf stellte er ohne große Verwunderung fest, dass bereits Leute bis zum Hals im See standen, die braunen Gesichter rot vor Hitze. Dick wie Talkum hing das Licht über dem Wasser. Er trat auf die geschwungene Betonstraße, die den See an dieser Seite begrenzte, und steckte den Arm bis zum Ellbogen hinein. Es war tatsächlich so warm wie ein Bad, fast zumindest. Er ließ den Arm drin, um herauszufinden, ob das Wasser kühler oder heißer als sein Körper war. Schwer zu sagen in der brütenden Luft. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass das Wasser an der Oberfläche ungefähr die gleiche Temperatur hatte wie sein Blut. Das hieß, es war deutlich kühler als die Luft. Und wenn es doch ein wenig wärmer war als der Körper … nun, dann war es immer noch kühler als die Luft. Seltsam, es war einfach schwer zu erkennen. Er sah nach den Leuten im See. Nur ein schmaler Streifen Wasser lag noch im Morgenschatten der Häuser und Bäume, und auch dieser Streifen würde bald verschwinden. Danach war der ganze See der Sonne ausgesetzt, bis der späte Nachmittag auf der anderen Seite wieder Schatten brachte. Das war nicht gut. Aber Regenschirme – alle hatten doch einen Regenschirm. Allerdings blieb dann noch immer die Frage, wie viele Menschen im See Platz hatten. Sicher nicht genug. Angeblich hatte die Stadt zweihunderttausend Einwohner. Umgeben von Feldern und Hügeln, die nächsten...

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