Dialektik der Emanzipation: Sexualität und Geschlecht in der modernen Erziehung

Dialektik der Emanzipation: Sexualität und Geschlecht in der modernen Erziehung

von: Jürgen Oelkers

Beltz Juventa, 2024

ISBN: 9783779980773

Sprache: Deutsch

252 Seiten, Download: 554 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Dialektik der Emanzipation: Sexualität und Geschlecht in der modernen Erziehung



1.Einleitung: Sexualität, Emanzipation und Gewalt


Sexualität war in der westlichen Geschichte der Mentalitäten und Körper über Jahrhunderte scheinbar unauflöslich mit Verboten, Unwissen und Gewalt verbunden. Die höfische Gesellschaft mit ihrer ungebundenen Sexualmoral bildete die langjährige Ausnahme. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde daraus ein neu besetztes öffentliches Thema, allmählich, ausgehend von den kulturellen Eliten, gerichtet gegen die kirchlich geprägten Verbote und von Anfang an ambivalent.

Die Erziehung blieb davon zunächst unberührt. Vor und nach dem Erstem Weltkrieg gab es zwar erste Versuche, die bestehende Sexualmoral aufzubrechen, in der Jugendbewegung etwa oder in den «SexPol»-Gruppen in Berlin oder Wien, auch in Untergrund-Zirkeln der Grossstädte, aber erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts und mit der Verbreitung hormoneller Verhütungsmittel gelang das auf breiter Basis. Die Folge war ein Wandel der sexuellen Moral, die zunehmend Befreiungsoptionen zuliess und förderte.

Das geschah im Sinne der Selbstorientierung einer jungen Generation, die unbelastet vom Krieg aufwachsen konnte und sich Freiheiten nahm, die es vorher nicht gab und die sich mit der Bildung von einschlägigen Kohorten auch durchsetzen konnten. In westlichen Ländern von privilegierten Studenten ausgehend und gestützt durch Gegenkulturen, die sehr schnell zum Mainstream wurden. Dass damit Schaden verbunden sein könnte, entzog sich den Vorstellungen oder jedenfalls wurde Schaden nie bilanziert.

Die autoritäre Sexualmoral änderte sich in wenig mehr als einem Jahrzehnt zugunsten von liberalen bis libertären Einstellungen, die es so und in der Breite der Gesellschaft nie zuvor gegeben hat. Wer dem Modell der befreiten Sexualität nicht folgen wollte, etwa aus Gründen des Glaubens oder der persönlichen Lebensform, riskierte, diskriminiert zu werden. Ein solcher Widerstand hat den Prozess der Entmythologisierung durch Praxis nicht aufgehalten.

«Sexualität» wurde von einer engen, fest umrissenen und weitgehend tabuisierten Grösse zu einem gesellschaftlichen Emanzipationsprojekt, das andauert und immer neue Provokationen hervorbringt, aus denen Diskursthemen erwachsen, die als Kontroversen beginnen und dann meist abflachen, je nachdem, welche neuen Einstellungen öffentlich akzeptiert werden und dann ihren Streitwert verlieren.

Sexualmoral war nie in der Geschichte so monolithisch, wie die Sittenlehren der christlichen Kirchen das vorsahen. Totale Enthaltsamkeit gab es auch in den Klöstern nicht und es fanden sich immer Möglichkeiten, die Verbote zu umgehen. Allerdings setzte die christliche Erziehung auf die Verinnerlichung von Schuld, gelenkt von Unwissenheit und Gefühlen einer dunklen Bedrohung, die als «Trieb» bezeichnet wurde und männlich konnotiert war. Den Frauen wurde Sexualität im Sinne von Lust verwehrt.

Die Einsicht, dass es sich um Repression handelte, kam massiv erst dann auf, als Alternativen sichtbar wurden. Verbote haben die Alternativen stets aufgewertet und deren Botschaften erst recht attraktiv gemacht. Die Zonen des Zulässigen wurden erweitert, ohne die Grenzen ganz zu verlieren. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts formte sich in den westlichen Gesellschaften dann ein liberaler Konsens, demzufolge Sexualität selbstbestimmt und als Privatsache zu betrachten sei, die öffentlich nicht diskriminiert werden darf.

Das war stark beeinflusst von erfolgreichen homosexuellen Emanzipationsbewegungen, die sich Geltung verschaffen konnten, aber die nicht, wie heutige Bewegungen, Sprache und Identität in Frage stellten. Und es war die Angelegenheit von Erwachsenen, die sich organisiert haben und ihre sexuelle Freiheit durchsetzen konnten, ohne der heterosexuellen Moral länger zu folgen. Doch sobald dies gesetzlich möglich war, wurden auch in Teilen der homosexuellen Kultur Ehe, Partnerschaft und die Gründung von Familien als Ideale und Lebensmöglichkeiten übernommen.

Die historische Befreiung von dem Risiko der ungewollten Schwangerschaft brachte eine ungleiche Lastenverteilung mit sich. Was «Verhütung» genannt wurde, war Sache der Frauen, die auch die körperlichen Nebenwirkungen tragen mussten und die unter Druck gerieten, wenn sie sich weigerten, die neuen Möglichkeiten der «Hormonpräparate» in Anspruch zu nehmen. Auch die Organisation von Abtreibungen blieb Frauensache. Männer schützten sich auf diese Weise vor ungewollter Vaterschaft.

Die männliche Hegemonie über die Sexualität blieb so lange erhalten, bis sich feministische Gegenbewegungen konstituierten. Erst die Selbstbestimmung und die Erfahrung von anderen Möglichkeiten brachte die Wende. Männer konnten sich sexuell nicht mehr einfach «überlegen» fühlen und die angemassten Dominanzgesten wurden fraglich, wenngleich, wie der Fall Harvey Weinstein zeigte, nur langsam und ausgelöst durch massive öffentliche Gegenwehr.

Die Aussagen von Opfern sexueller Gewalt werden nicht als «soziale Konstruktionen» betrachtet, die je nach Kontext auch ganz anders hätten ausfallen können. Die Aussagen werden heute respektiert und lösen Betroffenheit aus. Sie sind glaubwürdig, weil sie Mut erfordern, ohne den sie eine lange Leidenszeit nicht hätten überwinden können. Dafür musste eine Sprache gefunden werden, die das Erlebte, soweit das möglich ist, zum Ausdruck bringen konnte.

Der Verdacht, es handele sich um reine Selbstdarstellung, kam umso weniger auf, je mehr Aussagen öffentlich gemacht werden konnten. Lange hat die These vom «false-memory-syndrom» den Verdacht der Selbstdarstellung gestützt, aber diese These kann im Blick auf Opfer sexueller Gewalt als wenig aussagekräftig gelten. Falsche Erinnerungen sind normal und an sich kein Syndrom. Doch sexuellen Missbrauch einfach zu erfinden, wird in der neueren Trauma-Forschung weitgehend ausgeschlossen, nur ist die Erinnerung lange verschlossen und nicht einfach abrufbar, was vor Gericht häufig zu falschen Schlüssen geführt hat.

Mit diesem Hinweis wird auf eine zweite Geschichte verwiesen, nämlich die der Kinder. Kleine Kinder müssen noch viele Jahre nach der Geburt betreut und gepflegt werden, sonst können sie nicht überleben. Darauf muss jede Gesellschaft eingestellt sein. Anders als mit einem besonderen Status für die Kinder lässt sich die Generationenfolge nicht bewahren, nur ist dieser Status zwischen den Kulturen sehr unterschiedlich gestaltet worden.

Die Geschichte der Kindheit in westlichen Gesellschaften ist begleitet gewesen von körperlicher wie psychischer Gewalt. Sexuellen Missbrauch hat es immer gegeben, auch und gerade innerhalb von Familien. Das Strafrecht des 19. Jahrhunderts hat darauf mit gesetzlichen Verboten reagiert. Seitdem ist der Schonraum Kindheit mit einer juristischen Garantie verbunden worden, die Gewalt und Missbrauch ausschliessen soll.

Diese Verbote haben nicht verhindert, dass gegen Ende des Jahrhunderts Theorien aufkamen, die Sexualität mit Kindern als Bedürfnis sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder verstanden, was als «natürlich» und «normal» angenommen werden sollte, ohne zunächst eine grössere Öffentlichkeit zu erreichen.

Für die Theorie stand die griechische Antike Pate, in der es noch frei von den christlichen Verboten eine sexuelle Praxis zwischen erwachsenen Männern und Knaben gegeben haben soll, die gesellschaftlich anerkannt war. Diese historische Analogie wurde zur Rechtfertigung gebraucht und diente zunehmend auch für die Begründung von emanzipatorischen Ansprüchen.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es verschiedene Skandalprozesse gegen prominente Täter, die sexuelle Gewalt an Kindern ausgeübt hatten. Oft wurden dabei die Aussagen der Kinder vor Gericht angezweifelt und ist durch Gruppen von Unterstützern die Justiz angeklagt worden, wenn die Täter prominent genug waren.

Dabei müssen nationalkulturelle Unterschiede beachtet werden. In Frankreich waren offen pädophile Schriftsteller fast schon Rollenmodelle, ohne dass ein Sinn für die Leiden der Kinder aufgekommen wäre. Sie waren Objekt der Begierde oder wurden selbst als Verführer dargestellt, so dass die Erwachsenen für das, was sie taten, nichts konnten. Gedeckt wurden sie durch eine besondere Kultur literarischer Freiheit.

In England wurden offen sexuelle Romane wie Lady Chatterley’s Lover (dritte Fassung 1928) verboten, aber erst nachdem 1960...

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